Bildung und Soziales

Frauenbund Winterthur (Familiaris)

Tösstalstrasse 54

Die Geschichte der Entwicklung von der Mädchenherberge bis zur therapeutischen Wohngruppe zeigt den Wandel der Betreuung von Jugendlichen in den vergangenen 150 Jahren auf. Das Stück Zeitgeschichte begann 1888 durch den Frauenbund Winterthur an der Technikumstrasse.


Gründungsdatum
1888


Adresse
Familiaris Winterthur
Tösstalstrasse 54
8400 Winterthur
1910: Mädchenhaus Technikumstr.12 (Haus ganz rechts, später Druckerei Sailer) Foto: winbib (Signatur Technikumstrasse 61_32)

Auf die Initiative einiger Frauen erfolgte am 8. Mai 1888 die Gründung des „Frauenbund Winterthur“. Die Gründerinnen hatten die Notwendigkeit erkannt „den Interessenkreis der Frauenwelt zu erweitern und auf das Wohlergehen und Weiterbilden jener Frauen hinzulenken, die durch ihre soziale Stellung in jeder Beziehung behindert waren, aus eigener Kraft eine gewisse Besserung ihrer Lage herbeizuführen“ (aus dem Jubiläumsbericht Frauenbund 1888/1938). Als Erstes wurde im Jahre 1889 ein Stellenvermittlungsbüro eröffnet. Gleichzeitig wurde im Haus „Zum Winkel“ an der heutigen Technikumstrasse 12-14 (damals Eulachstrasse, Haus Druckerei Sailer) eine Mädchenherberge eröffnet. „Die Mädchenherberge sollte den stellensuchenden Mädchen Gelegenheit geben, in einem sauberen, gemütlichen Heim unter verständnisvoller Leitung die Zeit vor Stellenantritt verbringen zu können“.

Die Herberge wurde mit 12 Betten eingerichtet und durch den Frauenbund selber betrieben. Im Jahre 1922 wurde der Herberge dauernd ein Töchterheim angegliedert, wo auswärts wohnende Schülerinnen, Lehrtöchter und Angestellte freundliche Zimmer und eine frohmütige Lebensatmosphäre finden“. 1895 wurde die Kinderkrippe Wildbach gegründet. Sie zügelte 1963 in den von der Stadt erstellten Neubau an der Tösstalstrasse 54 neben dem Sunnehus und heisst heute „Kita Fantasia“. Eine spezielle Aktivität wurde 1901 mit dem selbst erbauten Haus „Zum Frauenbund“ (Architekten Jung & Bridler) an der Trollstrasse 34a begonnen. In diesem Gebäude bot man Koch- und Haushaltungskurse an. Unzählige Frauen besuchten Kurse, die zur „Hebung der Volkswohlfahrt“ beitrugen.

Dazu gab der Frauenbund auch ein Rezeptbuch heraus. Es erreichte eine Auflage von 35‘000 Exemplaren. Diese Institution trug sehr zur Popularität des Frauenbundes bei. Das Haus, obwohl inzwischen anders genutzt, trägt im Volksmund noch heute den Namen „Kochschule“. 1937 musste die Haushaltschule aus finanziellen Gründen geschlossen werden. 1940 stellte man auch das Stellenvermittlungsbüro der Kosten wegen ein. 1948 wurde die 2. Kinderkrippe an der Wartstrasse eröffnet. Sie läuft heute unter dem Namen „Kita Zauberschiff“. 1949 wurde das Gebäude „Kochschule“ an die Stadt verkauft. Zuerst richtete man Notwohnungen ein, später nutzte die Kantonsschule die Räumlichkeiten. Heute ist das Haus der SalZH, einer Schulalternative für Zürich (Privatschule) vermietet.

Ab etwa 1945, als der Zustrom von weiblichen Arbeitskräften aus der näheren und weiteren Umgebung in Gewerbe und Industrie zunahm, ohne dass geeignete Unterkünfte vorhanden waren, konnte den Nachfragen nach einem Platz in der Herberge nicht mehr entsprochen werden. Die Herberge war überfüllt und genügte nicht mehr. Diese Notlage konnte 1953 durch die Unterbringung des Töchterheimes im alten Waisenhaus an der Tösstalstrasse 48 behoben werden. Das Waisenhaus war in einen Neubau in Oberwinterthur an der Pestalozzistrasse 21 umgezogen. Das 1835 erbaute Haus wurde mit einfachen Mitteln den Bedürfnissen eines Töchterheimes angepasst und bot rund 40 Frauen und Mädchen Unterkunft. 1955 hob man die Kochschule auf.

Die Aufnahme jüngerer und älterer Personen führte immer wieder zu Konflikten. Mit der Zeit ergab sich deshalb eine Wandlung im Töchterheim „Sunnehus“, wie es nun genannt wurde. Es wurde zur Grossfamilie für junge Töchter. Während im Jahre 1964 der Anteil der Minderjährigen 55% ausmachte, so ist dieser bis im Jahre 1968 bereits auf 89% angestiegen. Die Betreuung der jungen Töchter erforderte vermehrte Führung, da oft teils Milieu, teil entwicklungsbedingte Schwierigkeiten zu überwinden waren. So wurde aus dem ursprünglichen Herbergs- und Pensionsbetrieb ein Erziehungsheim. Diese Entwicklung führte anderseits zur Planung einer Frauenherberge, wie sie in Verbindung mit der Heilsarmee entsprechend der bestehenden Männerherberge in der städtischen Liegenschaft Wartstrasse 40 im Frühling 1970 den Betrieb hätte aufnehmen sollen.

Leider kam es vorerst anders: In der Nacht von 7./.8. Februar 1970 fiel das Töchterheim Sunnehus einem Grossfeuer zum Opfer. Personenschaden gab es glücklicherweise nicht, das Gebäude war aber vollständig zerstört. Als Notlösung wurde dem Töchterheim die Liegenschaft Wartstr. 40 (Frauenherberge) zur Verfügung gestellt. Im Landboten berichtete der bekannte Kinderbuchautor Heiner Gross über das Brandereignis.

Sofort wurde an einem Raumprogramm für einen Neubau am bisherigen Standort aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Brandkatastrophe wohnten 36 Mädchen im Sunnehus, wobei ein Drittel Verwahrlosungserscheinungen aufwies und zum Teil in psychiatrischer Behandlung standen. Ein weiteres Drittel benötigte sozialpädagogische Führung und die restlichen Mädchen zeigten altersbedingte Probleme, bedurften aber doch der Geborgenheit in einer Gemeinschaft und gelegentlicher Beratung. Das Sunnehus hatte sich also eindeutig zum Töchterheim mit erzieherischem Charakter gewandelt. Für den Neubau, der 1977 bezogen wurde, ergab sich daraus die nötige Konzeption.

Erstellt wurden dann drei Wohneinheiten für je 12 Mädchen, unterteilt in je zwei Sechsergruppen in Einerzimmer. Dazu kamen natürlich die nötigen allgemeinen und infrastrukturellen Nebenräume. Das neue Sunnehus wurde durch den Architekten Peter Germann aus Zürich gebaut (Bausumme Fr. 1'688'000.-/Einweihung am 8. November 1978). Der Wandel von der Herberge zum Erziehungsheim brachte es aber nun auch mit sich, dass sich der Frauenbund ausserstande erklärte das Heim weiter ehrenamtlich zu führen. Die Stadt musste diese Aufgabe übernehmen. 1977 beendete der Frauenbund ihre Tätigkeit im Sunnehus und übergab Haus und Betrieb der Stadt.

Sozialpädagogik im Sunnehus in den 1970er und 80er Jahren

In den Erziehungsheimen bewirkten die 68er Bewegung und kurz darauf die Heimkampagne Veränderungen. Die Heimkampagne prangerte Missstände in den Institutionen medienwirksam an, stellte Heimerziehung als Hilfe und Ermöglichung komplett infrage und verlangte Reformen."' Es entstanden neue sozialpädagogische Ausbildungsgänge, die jugendpolitisch motivierte Studentinnen und Studenten anzogen.Sie waren gewillt, in den Einrichtungen der stationären Jugendhilfe Modernisierungen herbeizuführen. Mit der Neueröffnung von 1977 änderte das Sunnehus die Selbstbezeichnung von Nacherziehungsheim in «offenes Erziehungsheim» für weibliche Jugendliche ab 16 Jahren. Zudem übernahmen zwei Absolventen der Schule für Soziale Arbeit in St. Gallen die Führung in Koleitung.139 Beim sozialpädagogischen Personal hatte sich zu diesem Zeitpunkt ein Generationenwechsel vollzogen. In seinem Selbstverständnis war das Sunnehus nun ein Wohnheim, in dem die Bewohnerinnen während ihres zwei- bis dreijährigen Aufenthalts durch die Betreuungspersonen «zu einer äusseren und inneren Selbständigkeit zu führen» seien. Das Ziel bestand darin, sie «zu lebensbejahenden Menschen zu formen».Mit dem Begriff «Selbständigkeit» tönt hier pädagogisch etwas Neues an, nachdem das Sunnehus bereits 1973 gemeinsam mit zwei externen Gruppentherapeuten eine «Gruppenarbeit» aufgebaut hatte, um die «Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeiten» der Jugendlichen und die «Atmosphäre im Heim» zu verbessern. Es ging nicht mehr nur darum, Junge in den Arbeitsprozess zu integrieren und sie zu «tüchtigen» Menschen zu formen. Selbstständigkeit wurde ins Auge gefasst, auch wenn der Begriff «Selbstbestimmung» in der sozialpädagogischen Sprache der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sunnehus noch nicht auftaucht. (aus "Zusammen alleine - Alltag in Winterturer Kinder- und Jugendheimen")

Das Tätigkeitsfeld des Frauenbundes war einst sehr vielfältig. Neben dem im Zentrum stehenden Stellenvermittlungsbüro und dem Mädchenheim, kamen die Haushaltungs-, Dienstboten- und Kochschule und die Prüfung von Lehrtöchtern dazu, sowie ein Mittagstisch im Mädchenheim. Seit 1895 und bis heute war das Führen von Kinderkrippen ein erfolgreiches Dienstleistungsangebot. Rechtliche und politische Fragen standen stets im Hintergrund. Die teils prominenten bürgerlichen Frauen der Führungsriege hielten sich dazu dezidiert zurück. Das Mädchenheim (Herberge) bot stellenlosen Mädchen Kost und Logis zum Preis von Fr. 1.20 im Tag. Der Mittagstisch kostete 60 Rappen, im Abonnement 55 Rappen. Das Heim bot damals (1914) pro Jahr über 1700 Abendessen und 2150 Übernachtungen an. Der Mittagstisch kam pro Jahr auf 26‘000 Essen. Das Zielpublikum war bis über den ersten Weltkrieg hinaus die Dienstmädchen, meistens aus Deutschland, die eine Stelle suchten und eine zeitweilige Unterkunft benötigten. Es wurde sogar eine Diplomierung von Dienstboten eingeführt. Der Frauenbund sah darin den Ausdruck eines „schönen Verhältnisses zwischen Herrschaft und Dienstboten“. Ida Sträuli-Knüsli war die zentrale Figur, die dem Frauenbund in den ersten Jahrzehnten den Stempel aufgedrückte. Siehe auch den separaten Glossarartikel über Ida Sträuli.

Der Frauenbund, im Jahr 2000 in „Familiaris“ umbenannt, widmet sich heute in erster Linie dem Betrieb von Kinderkrippen. Somit hat sich die bereits 1895 aufgenommene Tätigkeit der Führung der Kinderkrippe Wildbach (damals hinter dem Technikum) weit über 100 Jahre erhalten und ist weiterentwickelt worden. Heute sind es folgende fünf Kindertagesstätten:

„chinderhuus fantasia“ Tösstalstrasse 54 (Nachfolge der Kinderkrippe Wildbach), drei altersgemischte Gruppen und eine Kleinkindergruppe „Kita Schnäggehuus“ Scheideggstr 10a, zwei altersgemischte Gruppen und eine Kleinkindergruppe „Kita Zauberschiff“ Wartstrasse 63, drei altersgemischte Gruppen und eine Kleinkindergruppe „Kita Strickhof“ Weinbergstr. 181, 8 Kinder und 2 Kleinkinder in einer Gruppe „Kita Äntennäscht“ Ida-Sträuli-Str. 79, zwei altersgemischte Gruppen und eine Kleinkindergruppe

NACHTRAG

Derzeit sind im neuen „Sunnehus“ untergebracht: -Durchgangsstation Winterthur (DSW), Die DSW ist die nach aussen geschlossene Institution für männliche Jugendliche der stationären Jugendhilfe und des Straf- und Massnahmevollzuges des Kantons Zürich. Die DSW bietet Platz für neun Jugendliche, in der Regel zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr. Der neunte Platz wird mehrheitlich für kurzfristige Notfälle frei gehalten. www.dsw.ch -Verein für Sozialpsychiatrie Region Winterthur (VESO), Wohngruppe Sunnehus -Städtisches Temporär- und Altersheim Sunnehus

Bibliografie

    Familiaris Winterthur, Trägerverein, Kinderbetreuung

    • Einträge ab 2011

      Studer-Alder, Minna: 125 Jahre Familiaris Winterthur, 5 Kindertagesstätten (Kittas). In: Winterthur Magazin, Nr. 2 (2013), S. 54. m. Abb.
      Niderhäuser, Peter: 125 Jahre Frauenbund - zwischen Frauenwelt und Kinderkrippen. In: Winterthurer Jahrbuch (2014). m.Abb.

      Einträge 1991–2010

      Frauenbund wird familiaris: Winterthurer Dok 2001/ . - Landbote 2001/242


Autor/In:
Heinz Bächinger
Unredigierte Version
Letzte
Bearbeitung:
05.04.2023