Grosskonzerne

Gelatinefabrik Winterthur

Rund 80 Jahre wurde in der Grüze Gelatine und –produkte hergestellt. Seit den 1970er-Jahren wurde diese Herstellung aufgegeben und die Liegenschaften werden seither als Mietobjekte weitergegeben. Das Ende der Gelatineproduktion in Winterthur war die Folge eines unaufhaltsamen und weltweiten Wandels der marktwirtschaftlichen und makroökonomischen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.


Gründungsdatum
1872


Adresse
Gelatinefabrik Winterthur
St. Gallerstrasse 119
8404 Winterthur
1902: Briefkopf Gelatinefabrik Winterthur, mit Abbildung Fabrikareal St. Gallerstrasse 119, Rechnung Foto: winbib (Signatur Raths_114_Ausschnitt)

Die Vorgeschichte der Gelatinefabrik Winterthur (GFW) begann mit der Gründung einer Leimfabrik im Jahre 1872 und endete mit dem Brand am 26. April 1880 und einem Verlust von Fr. 35‘000 in der Jahresrechnung. Zwischen diesen beiden Daten hatten die Gründer, Conrad Keller-Egg, Direktor der Bank in Winterthur, Gottfried Keller-Sulzer von Schaffhausen, Stadtrat, und J. F. Bader-Wild, nach anfänglichen Misserfolgen bei Versuchen, Gelatine zu produzieren, Carl Simeons beigezogen. Er hatte in Höchst eine Gelatinefabrik geleitet. Ihm war 1976 das Unternehmen unter dem Titel „Gelatinefabrik Winterthur Carl Simeons“ pachtweise überlassen worden.

Am 29. Dezember 1880 beschlossen Conrad Keller-Egg, J.F. Bader-Wild, Eduard Sulzer Ziegler, Werner Sträuli und Viktor von Meyenburg auf einer konstituierenden Generalversammlung die Gründung einer Aktiengesellschaft zum Erwerb und zum Fortbetrieb der GFW. 1892 trat Walter Sulzer-Steiner (1866-1918), Sohn von Eduard Sulzer-Ziegler, als Mitgerant in die Gelatinefabrik ein. Zuvor hatte er sich umfassende Erfahrungen in der Gelatineproduktion im Ausland und Übersee erworben. Die Entwicklung war sofort positiv und die Absatzmärkte entwickelten sich weltweit. Mehrmals wurde über Erweiterung und Neubauten der Fabrikanlagen diskutiert. Zu einem positiven Beschluss konnte sich der Verwaltungsrat nicht entschliessen.

Dies obwohl die Produktion mit den Bestellungen nicht Schritt halten konnte. Am 2. Juni 1918 verstarb Walter Sulzer-Steiner überraschend im 52. Altersjahr. Seine Verdienste um die Entwicklung und Positionierung im Welthandel (Exporte nach Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Niederlande, Österreich, Russland, Spanien und USA) der GFW wurde vom Verwaltungsratspräsident Dr. Gustav Keller mit Treue und Gewissenhaftigkeit im Kleinen wie im Grossen gewürdigt. Die Arbeiter erhielten am Beerdigungstag frei und zur Ehrung des Verstorbenen wurde ihnen der doppelte Lohn ausbezahlt. Die Zeitspanne von 1892 bis 1917 darf als Glanzzeit der GFW bezeichnet werden. Der Erfolg der eigenen Produktion, namentlich auf dem Gebiet der Emulsionsgelatine war durchschlagend.

(Das Gelatineverfahren ist ein Verfahren aus der Frühzeit der Fotographie zur Herstellung fotografischen Negativmaterial.) Das Arbeitsklima war gut und die Arbeiterschaft nahm an den Erfolgen des Geschäfts fortlaufend teil. Die Zeitspanne von Anfang der neunziger Jahre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war die „goldene Zeit“ der GFW. Die nächste Phase der GFW von 1918 bis 1968 war gekennzeichnet durch ein Auf und Ab. Sie war geprägt durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg. Mit verschiedensten Massnahmen- auch Lohnabbau gehörte dazu- konnte der Betrieb immer wieder aufrechterhalten werden. Auch Erweiterungen, Anpassungen und technische Anpassungen konnten finanziert werden.

Die kaufmännische Leitung übernahm ab 1920 Walter Sulzer-Sulzer (1894-1979), ein Sohn von Walter Sulzer-Steiner. Die technische Leitung übernahmen künftig ausgebildete Chemiker. Im Verwaltungsrat hatte 1927 Diplomingenieur Hermann Bühler-Krayer (1896-1985) Einsitz genommen. Er nahm sich im Besonderen der technischen Entwicklung an. Das Jahr 1950 bedeutete einen Wendepunkt. Es wurde weltwirtschaftlich gesehen zu viel Gelatine produziert. Die Hauptabnehmer-Länder der GFW, Italien und Japan, produzieren eigene Gelatine und zudem wurde mancherorts die Eigenproduktion durch Zölle von 20 und mehr Prozenten geschützt. Es stellte sich die Frage, ob die Gelatineproduktion überhaupt eine Zukunft hat. Man trotze der Versuchung den Betrieb zu liquidieren, erneuerte sukzessive die Produktionsanlagen und fand wieder zu einem Nettogewinn dank neuen Absatzmärkten im Ostblock und in China zurück. 1953 trat Walter Sulzer-Sulzer krankheitshalber zurück. Nach 35 Jahre erfolgreicher kaufmännischer Leitung fiel dieser Rücktritt schwer. Die Gesamtleitung übernahm der Chemiker Dr. Albert Collet, der Sulzer bereits ab 1947 in den Reisetätigkeiten entlastet hatte.

Die Beschlüsse der ausserordentlichen Generalversammlung vom 17. März 1969 läuteten den Anfang vom Ende der Produktionstätigkeiten ein. Nach dem auch die Produktion von Gelatinekapseln für den pharmazeutischen Gebrauch nicht zum Erfolg gebracht werden konnte, leitete man den Wechsel vom Unternehmen eines Fabrikbetriebes zu einem Dienstleistungsbetrieb, lies Immobilienverwaltung, ein. Ende 1970 bestand das Personal der Fabrik noch aus sechs angestellten und fünf Arbeitern. Die Lagervorräte wurden sukzessive heruntergefahren und die frei werdenden Räumlichkeiten für Vermietungen hergerichtet.

Erster Hauptmieter wurde der Milchverband, der 62 % der Mietfläche belegt hatte. Sprecher & Schuh und Glas-Schwalm waren weitere grössere Mieter. Später kam die Firma Keller AG für Druckmesstechnik dazu. Dieser Betrieb ist heute der Hauptmieter. Seit 1994 firmiert die Gesellschaft als „Gelatine AG für Industriedienstleistungen Winterthur“. Nebst dem einstigen Fabrikareal an der St. Gallerstrasse bewirtschaftet sie auch die Liegenschaft „Alte Spinnerei“ in Kollbrunn. Als Grundlage zu diesem Glossar-Eintrag diente die Broschüre „Geschichte der Gelatinefabrik Winterthur“ von Dr. Peter Sulzer-Jantzen, 1992. Ihr wurden auch die Abbildungen entnommen.

Bibliografie


Autor/In:
Heinz Bächinger
Unredigierte Version
Letzte
Bearbeitung:
24.02.2022