Bildung und Soziales

Julie Bikle

Geschäftsfrau und humanitäre Helferin, 1871–1962

Julie Bikle lebte in Winterthur und war im internationalen Holzhandel tätig. Kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrieb sie von 1914 bis 1919 die private «Ermittlungsstelle für Vermisste», organisierte Hilfsgüter für Kriegsgefangene und vermittelte. Von 1919 bis 1924 organisierte sie zusammen mit dem Arzt Emil Abderhalden Erholungsaufenthalte für Kinder aus Deutschland in der Ostschweiz. Ihr ganzes Leben lang setzte sie sich für Kriegsopfer ein.


Geburtsort
Luzern

Geboren
15.07.1871

Gestorben
15.07.1962


Julie Bikle (links) und Rosa Ehrensperger um 1900
Foto: winbib (Signatur FotSch_001-113)

Kindheit und Jugend

Julie Bikle wurde 1871 als älteste Tochter deutscher Eltern mit hugenottischen Wurzeln in Luzern geboren und wuchs anschliessend in gutbürgerlichen Verhältnissen in Winterthur auf. Ihr Vater führte an der Wartstrasse 14 das florierende Unternehmen Bikle & Co., das international mit Furnierhölzern handelte.

Er pflegte vor allem gute geschäftliche Kontakte nach Deutschland und Frankreich. Winterthur war damals eine blühende Industrie- und Handelsstadt, und das Geschäft florierte. 1888 erhielt die gesamte Familie das Winterthurer Bürgerrecht. Ihr Vater erkannte den wachen Geist seiner Tochter und bat sie, auf ein Studium zu verzichten und sich stattdessen mit der Geschäftsleitung vertraut zu machen. Zudem übertrug er ihr die Verwaltung des Familienbesitzes. Julie Bikle musste schon kurz danach das Erbe ihres Vaters antreten, denn Wilhelm Bikle verstarb 1899 überraschend. Ihre Brüder kehrten aus dem Ausland zurück und unterstützten sie bei der Geschäftsführung als Mitinhaberin.

Über Geschäftskorrespondenzen zum Suchdienst für Kriegsvermisste

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden die Brüder und männlichen Mitarbeitenden zum Grenzdienst eingezogen, und Julie Bikle verwaltete das Geschäft alleine. Bald erhielt sie immer wieder private Hilfegesuche, die an ihre Geschäftskorrespondenzen angefügt wurden. Angehörige versuchten auf diese Weise, Informationen über den Verbleib von vermissten Soldaten oder jungen Frauen zu erhalten. Im 19. Jahrhundert emigrierten viele Menschen aus Deutschland, Frankreich und Österreich aufgrund bürgerlicher Revolutionen in die Schweiz. Ihre Verwandten befanden sich jedoch noch immer in den kriegsführenden Staaten, und nicht selten brachen die Kontakte ab.

Julie Bikle entschloss sich zu handeln und richtete bereits im August 1914 ihre private «Ermittlungsstelle für Vermisste, Winterthur» ein. Als Zentrale diente ihr Geschäftssitz an der Wartstrasse 14. Sie arbeitete mit zwei bis sechs freiwilligen Helferinnen und Helfern aus ihrem Umfeld zusammen – überwiegend gebildete Frauen aus der Winterthurer Oberschicht. Bikles Ermittlungsstelle existierte bereits vor der Eröffnung der grossen Zentrale für Kriegsgefangene in Genf. Im Gegensatz zum Roten Kreuz war Bikles Initiative zudem ausschliesslich privat finanziert.

Die Ermittlungsstelle entstand spontan, und die Strukturen entwickelten sich durch die praktischen Erfahrungen der Helferinnen und Helfer. Ein kritisches Hindernis stellten die einzelnen Zensurstellen der kriegsführenden Parteien dar. Dort blieben die meisten Anfragen hängen, wurden abgewiesen oder langsam bearbeitet. Um den Prozess zu beschleunigen, begannen die Frauen, Übersetzungen beizulegen. Die dafür nötigen Sprachkenntnisse in Französisch, Englisch, Russisch und Italienisch brachten die gut gebildeten Frauen aus der Oberschicht selbst mit. Für Übersetzungen in die polnische, ruthenische und ungarische Sprache arbeitete die Ermittlungsstelle mit Studierenden der Technischen Hochschule in Zürich zusammen. Sie sprachen die Zensurbeamten in ihren Korrespondenzen direkt an und machten darauf aufmerksam, dass alle ihre Hilfe in Anspruch nehmen konnten.

Durch ihre konsequent neutrale Haltung steigerten sie die Akzeptanz und das Vertrauen der Botschaften, Zensur- und Militärbehörden. So wurde sie beispielsweise offizielle Vermittlerin für den Schriftverkehr von deutschen und österreichischen Marinesoldaten, die in Brasilien in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Um die Lesbarkeit weiter zu steigern, verfassten sie ihre Briefe konsequent auf Schreibmaschinen. Die Ermittlungsstelle korrespondierte neben privaten Kontakten direkt mit Gefangenenlagern, Botschaften und Hilfswerken.

Gleichzeitig betätigte sich die Ermittlungsstelle auch bei der Koordination von Hilfsgaben für Kriegsgefangene, und Julie Bikle setzte sich persönlich für bessere Haftbedingungen ein. Schon früh forderte sie, dass man via Lazarettzüge einen Gefangenenaustausch über Schweizer Territorium ermöglicht. Diese Idee wurde später vom Roten Kreuz umgesetzt.

Bis 1919 bearbeitete die Ermittlungsstelle 3406 Suchanfragen, wovon 850 Fälle aufgeklärt wurden. Diese Zahl war angesichts der beschränkten Kommunikationsmittel, der chaotischen Zustände in den Kriegsregionen und der Zensur beachtlich.

Schweizerfürsorge für deutsche Kinder (1919–1924)

Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg waren die Dienste der Ermittlungsstelle nicht mehr nötig. Doch schon bald standen neue Herausforderungen an. Die britische Marine hatte nach Kriegsausbruch ihre Seehoheit genutzt und die deutschen Häfen vom Zugang zu Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Tierfutter abgeschnitten. Diese «Lebensmittelblockade» blieb bis zum Friedensvertrag im Juli 1919 bestehen. Die verheerenden Auswirkungen dieser Kriegstaktik wurden von deutscher Seite während des Kriegs mehrheitlich verschwiegen. Julie Bikle erfuhr von Kriegsgefangenen von der desaströsen Ernährungslage in Deutschland und Österreich. Sie verschickte darauf Flugblätter und machte die Schweizer Behörden auf die Zustände in den beiden Nachbarländern aufmerksam. In diesem Kontext begann sie auch mit dem nach Deutschland emigrierten Schweizer Arzt Emil Abderhalden zu korrespondieren, der sich 1919 an alle Universitäten der neutralen Staaten wandte und um Hilfe für Deutschland bat.

Die offizielle Schweiz reagierte zunächst nicht auf den Hilferuf aus Deutschland, sondern beschränkte die Hilfstätigkeiten auf Österreich, insbesondere Wien. Auch in Winterthur waren es zuerst 65 unterernährte Kinder aus Wien, die in die Ferienkolonien aufgenommen wurden. Bikle beschloss darauf, das Zepter selbst in die Hand zu nehmen und versprach Emil Abderhalden, in Winterthur nach geeigneten Unterkünften zu suchen. Im Juli 1919 konnte sie erstmals Plätze vermitteln. Für den Transport arbeitete sie mit dem Deutschen Hilfsverein in Zürich zusammen. In der Region Winterthur wurden die durch Julie Bikle vermittelten Kinder bald als «Abderhalderkinder» bekannt.

Die Kindertransportzüge hielten jeweils in Basel. 300 bis 800 Kinder stiegen dort aus und wurden auf die gesamte Schweiz verteilt. Julie Bikle holte die ihr zugeteilten Kinder meist persönlich in Basel ab. Winterthur war eine Drehscheibe für die Vermittlung von Kindern in die Ostschweiz, und viele von ihnen übernachteten in der alten Kaserne, bis sie an ihren Zielort weitergeschickt wurden. Die Kinder wurden in Pflegefamilien, Ferienkolonien, Sanatorien und Heimen untergebracht, wo sie in der Regel acht Wochen lang verblieben. 1920 wurde zur besseren Koordination aller Hilfswerke eine Zentralstelle gegründet, deren Leitung Julie Bikle übernahm. 1923 übergab sie die Leitung an das Schweizer Kinderhilfswerk (SKK). Julie Bikle koordinierte aber weiterhin alle Unterbringungen in der Ostschweiz. Diese Tätigkeit war die erste, für die sie selbst auch einen Lohn bezog. Mit Hilfe von Julie Bikle erhielt etwa 47’000 Kindern einen Erholungsaufenthalt in der Ostschweiz.

Finanzieller Ruin und Krise

Nach dem Ende ihrer Hilfstätigkeit konzentrierte sich Julie Bikle wieder stärker auf den Familienbetrieb. Dieser wurde jedoch immer unrentabler und die Folgen der Weltwirtschaftskrise führten zu einer schwierigen finanziellen Lage. Julie Bikle sah sich aus Geldnot gezwungen, sich selbst für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Da dies nicht möglich war, fand sie im Zürcher Nationalrat Otto Pfister einen Fürsprecher. Er nominierte sie 1935, 1936 und 1937. Die Ehre wurde ihr jedoch nie zuteil.

«Häuser der Menschlichkeit»

Stattdessen bot sie der Stadt ihre eigene Liegenschaft an der Wartstrasse zum Kauf an. Sie schlug vor, dort ein Altersheim einzurichten. Als jedoch 1938 der «Anschluss Österreich» geschah, erkannte Julie Bikle den Ernst der Lage und schlug der Stadt vor, stattdessen ein «Haus der Menschlichkeit» zur Aufnahme von geflüchteten Jüdinnen und Juden einzurichten. Die Stadt lehnte das Angebot ab. 1940 diente das Gebäude jedoch als Krankenstation für Studierende aus dem Internierten Hochschullager. Julie Bikle richtete sich in der Folge direkt an Adolf Hitler, Benito Mussolini, Franklin D. Roosevelt und weitere Machthaber. Per Brief forderte sie die Staatsoberhäupter auf, ihre Kriegshandlungen sofort einzustellen.

Umfangreicher Nachlass

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es ruhig um Julie Bikle. Sie ordnete ihren Nachlass und stellte Dokumente für einen abschliessenden Bericht zusammen, den sie jedoch nie niederschrieb. Julie Bikle starb am 11. Mai 1962 in Kleinandelfingen. Ihr Nachlass befindet sich heute in der Sammlung Winterthur.

Würdigung

Im Jahr 2008 wurde im Dättnau auf Vorschlag des Vereins Frauenstadtrundgang Winterthur eine Strasse nach Julie Bikle benannt. 


Benutzte und weiterführende Literatur:

Nachlass Julie Bikle, Sammlung Winterthur
Bernhard, Roberto: Vom Gewissen getrieben. Julie Bikle (1871–1962) und ihre von 1914 bis 1919 weltweit tätige «Ermittlungsstelle für Vermisste, Winterthur», Separatdruck aus dem Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2018, Zürich 2017.
Steiner, Dorothea: Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken. Julie Bikle und die Beherbergung deutscher Kinder in der Schweiz 1919 – 1924, Zürich 2016.
Esseiva, Renato: Eine Winterthurer Philantropin, in: Winterthurer Jahrbuch 2005, S. 150-155.
Bikle, Julie: Bilder aus der Tätigkeit der Ermittlungsstelle für Vermisste, Winterthur 1914-1919. Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft Winterthur (64), 1928.

Bibliografie

    Bikle, Julie, 1871-1962, Geschäftsfrau, Ermittlungsstelle für Vermisste 1914-1918

    • Einträge 1991–2010

      Eine Winterthurer Philantropin: Winterthurer Jahrbuch 2005 von Renato Esseiva, m.Abb.
      Euses Blättli 2008/87 von Renato Esseiva, m.Abb.


Autor/In:
Nadia Pettannice
Letzte
Bearbeitung:
11.10.2024