Liebe Trauergemeinde, wenn nun zunächst der Lebensgang und das Lebenswerk unseres Heimgegangenen gewürdigt werden sollen, so wollen wir zuerst hören, was seine Familie über ihren Vater schreibt, um hernach aus berufenem Munde den Lehrer, den Forscher und Gelehrten, und schliesslich den Politiker Marcel Beck noch einmal vor uns entstehen zu lassen.
Nachdem im Laufe des vergangenen Jahres Marcel Beck mehr und mehr dem Leiden und der Pflege anheimgefallen war, die er beide mit seiner Gattin zu teilen hatte, und nachdem für ihn fast undenkbar die Aufnahme in ein Pflegeheim vorgesehen werden musste, hat er sich innerlich ergeben und dem Sterben entgegengeharrt. Dieses ist ihm nun am vergangenen Montagmorgen gnädig zuteil geworden. Seine Kinder, die sich in dieser Zeit sehr ihres Vaters angenommen haben, schildern uns sein Wesen wie folgt:
Unser Vater wurde am 16. April 1908 in Bogotà geboren. Mitten im Ersten Weltkriege kam die Familie dann in die Schweiz und liess sich später hier in Winterthur nieder. Er wurde in unserer Stadtkirche getauft, hat hier den Bund der Ehe geschlossen. Es entspricht seiner Liebe zu dieser Kirche, wenn wir heute in ihr von ihm Abschied nehmen.
Die ersten abenteuerlichen Jugendjahre haben unsern Vater für sein Leben geprägt. Seine Fantasie, sein unabhängiges Denken, aber auch seine Unberechenbarkeit und sein absoluter Autoritätsanspruch haben in uns Kindern ein sehr vielschichtiges Vaterbild geprägt, dessen Ansprüchen zu genügen uns oft nicht leicht fiel. Unsere Mutter, Heidi Studer, lernte er schon in der Primarschule kennen. Gemeinsam verbrachten sie ihre ganze Gymnasial- und Studentenzeit. Wie sie uns oft erzählt haben, beschlossen sie bereits mit 16 Jahren einander zu heiraten, was dann mit 25 Jahren, am 25. März 1933, auch geschah. Zunächst verbrachten sie eine erste Zeit in Berlin, wo Vater wissenschaftlicher Mitarbeiter der «Monumenta Germaniae Historica» war.
Von dieser Arbeit hat er sich dann 1937 wohl der politischen Lage wegen getrennt. Nach dem Krieg wirkte er aber noch 35 Jahre lang in der Zentraldirektion mit und konnte so vielen Schweizer Studenten die Möglichkeit bieten, dort wissenschaftlich zu arbeiten. In Berlin haben unsere Eltern äusserst einfach gelebt.
Für uns war es schon sehr früh selbstverständlich, dass sie sich zuerst einmal gegenseitig gehörten, eine Erkenntnis, die uns drei ältere Geschwister lehrte, bei aller Unterstützung und bei allem Halt zuhause, bald einmal selbständig zu denken und zu handeln. Unser jüngster Bruder hatte leider bei der Geburt eine Hirnblutung. Er konnte nie selbständig werden und lebt seit seinem 20. Geburtstag in der Klinik Rheinau. Mit ihm konnte sich unser Vater geistig nicht auseinandersetzen, dafür galt ihm seine ganz besondere Fürsorge.
Die schönste Zeit für uns Kinder waren die Jahre 1939 bis 1947 mit unserem Vater in Bern, als er als Bibliothekar an der Landesbibliothek arbeitete. Wenn er nicht Militärdienst leisten musste, zog er Sonntag für Sonntag mit uns los zum Wandern, zum Picknicken. Wir lernten Feuer machen, Pilze sammeln und die unsinnigsten Lieder singen. Oder er erzählte uns stundenlang Märchen, selbsterfundene. Erst später erkannten wir die Motive wieder: in den griechischen Sagen, in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht, oder in den russischen Märchen.
Es gab Wochen, da wurde jeden Tag mit der Spieleisenbahn verbracht oder mit eigens für uns hergestellten Bauklötzen Häuser und Türme gebaut. Dabei musste alles nach strengen Regeln geschehen, nichts durfte kaputt gehen oder vernachlässigt werden. Die Regeln waren aber auch Spiel, sei es, dass wir tagelang Zwiebeln und Brot, wie die russischen Muschniks, oder Dörrfrüchte wie die Hunsa assen.
1947 zogen wir nach Münchenbuchsee. Unser Vater hielt in diesem Sommer bereits eine Vorlesung in Zürich. So sahen wir nicht mehr viel von ihm. Und als wir dann 1948 nach Winterthur an die Jakobstrasse kamen, betrachtete er seine Erziehungsarbeit an uns als abgeschlossen. Von nun an widmete er sich seinen Studenten und der Politik. Das heisst nicht, dass wir nicht in seinem Leben eingeschlossen gewesen wären.
Da unsere Mutter immer ein sehr gastliches Haus führte (unterstützt von unserer dritten Respektsperson Rosine Leimbacher), begegneten uns in diesen Jahren die verschiedensten und widersprüchlichsten Persönlichkeiten aus der Universität, aus der Politik und der Kultur. Unser Vater war ja auch während einigen Jahren Präsident der Literarischen Vereinigung Winterthur.
So lebten wir in einem Elternhaus, in dem kein Tag wie der andere war, und in dem wir den Vater als Mittelpunkt einer ständig wechselnden Umgebung erlebten. Dazwischen gab es einige Fixpunkte, in denen er der Familie gehörte. Das waren Feste wie Weihnachten oder grosse Familienfeiern wie die Hochzeiten der Söhne, die Tauffeiern der Enkel oder auch die Maisonntage, an denen wir nach Stein am Rhein bummelten. In der Familie war unser Vater traditionsbewusst.
Darin unterstützte ihn auch unsere Mutter, und die Familie Beck wusste dank der Fantasie des Vaters und dem Organisationstalent der Mutter, wie man Feste feiert. Auch in seinen Altersjahren fühlte sich unser Vater am glücklichsten, wenn sich die ganze Grossfamilie —seine Kinder, seine sechs Enkel, deren Angetraute, Verlobte, Freundinnen und Freunde — um seinen schweren Fauteuil versammelte und die Mutter dazu Speis und Trank auftischte.
Er hat noch erfahren, dass er bald Urgrossvater werden würde. Da meinte er, nun sei alles gut, sein Erbe sei gesichert.