Vereine und Verbände

Neue Helvetische Gesellschaft Winterthur (NHG)

Die Neue Helvetische Gesellschaft (NHG) ist seit dem 1. Februar 1914 eine überparteiliche schweizerische Vereinigung, die das Ziel hatte, die innerhelvetischen Differenzen zu überwinden, die staatliche Eigenständigkeit zu erhalten und allgemein gegen den Materialismus zu kämpfen. Am 3. September 1915 wurde die Neue Helvetische Gesellschaft (NHG), Gruppe Winterthur gegründet.


Gründungsdatum
1915


Adresse
Neue Helvetische Gesellschaft
8400 Winterthur
2011: Neue Helvetische Gesellschaft, Vorstandsmitglieder Foto: winbib, Peter Würmli (Signatur FotDig_Lb_005-083)

Zukunftsgerichteter Start

Auch die NHG Winterthur befürwortete den Eintritt in den Völkerbund. Ähnlich progressiven Geist tat sie kund, indem sie 1918 die Aufnahme weiblicher Mitglieder beschloss, 1919 die erste Frau in den Vorstand aufnahm (angeblich als erste Ortsgruppe) und im selben Jahr eine Petition zugunsten baldiger Einführung des Frauenstimmrechts einreichte. 1974 wählte die NHG Winterthur wahrscheinlich als erste Gruppe der Schweiz eine Frau zur Präsidentin, die auch erste Zentralvizepräsidentin wurde. Solches war bemerkenswert, da die Schweizer Politik noch lange hauptsächlich Männersache war. Immerhin sassen in den ersten beiden Jahrzehnten der Winterthurer NHG bedeutende, weit herum bekannte Männer – meist liberaler Gesinnung – vor. Später übernahmen eher Vertreter des Mittelstands diese Funktion. Im Frühling 1939 sorgte die NHG Winterthur (vermutlich als erste Gruppe) für die Aufnahme eines Sozialdemokraten in ihren Vorstand. Die Kriegsgefahr sprach für einen Schulterschluss politischer Richtungen. Es gab allerdings Ausnahmen: 1942 wurde ein dem Nationalsozialismus Zuneigender ausgeschlossen. Vertreter von Sozialdemokratie oder Gewerkschaften wurden dagegen ab 1939 mit nur kurzer Unterbrechung immer wieder in den Vorstand berufen; erstmals 1991 bis 1996 war ein Sozialdemokrat Präsident. Mit der Zeit gelangte zudem die lateinische Schweiz zu wiederholter Präsenz im Vorstand. Die Ortsgruppe Winterthur sorgte seit ihrer Gründung jedes Jahr für ein reiches und gehaltvolles Programm von Vorträgen und Diskussionsanlässen. Meist ging es um Eidgenössisches, nicht selten aber auch um kantonal oder kommunal Interessierendes; Wirtschafts­ und Sozialfragen kamen dazu. Bei Bedarf kam auch Auslandskunde und vielfach die aussenpolitische Positionierung der Schweiz, auch gegenüber der UNO, dem EWR und der EU, zur Sprache. Die Winterthurer NHG ging mit den Jahren dazu über, auch zahlreiche kulturelle und heimatkundliche Anlässe anzubieten: Besichtigungen, Führungen, Exkursionen, Lesungen, Konzerte, von ihr geförderte Ausstellungen sowie Film­ und Bühnenaufführungen. Zudem half die Ortsgruppe 1974 verhindern, dass die bedeutende Hinterlassenschaft des Winterthurer Literaten Prof. Dr. Rudolf Hunziker nach auswärts vergeben wurde. 1995 tat sie mit Erfolg ein Gleiches, als sich abzeichnete, dass die Stadt Winterthur auf ihr international angesehenes Münzkabinett verzichten würde.

Wirkungsgeschichte

Naturgemäss ist es kaum möglich, den Einfluss eines staatsbürgerlichen Vereins zu messen. Für die NHG Winterthur lässt sich solches bisweilen an einem ausserordentlichen Publikumsinteresse ablesen, wenn die Zahl von ein paar Dutzend oder gut hundert Teilnehmern an einer Veranstaltung bedeutend überschritten wurde. Wir heben einige dieser Momente hier hervor: Schon nach dem Ersten Weltkrieg liess das neu erwachte Interesse an Amerika über 1200 Personen zu einem Vortrag eines Professors der Columbia University zusammenströmen. Am 5. Mai 1940, fünf Tage vor Beginn des deutschen Westfeldzugs, vereinigte die NHG mehr als 1500 Personen im Stadthaus, um eine ebenso eindringliche wie visionäre Lagebeurteilung durch den Historiker Prof. Dr. Karl Meyer anzuhören. In einer an den Bundesrat gerichteten Resolution bekundeten sie den «geschlossenen Willen zur Verteidigung». Weitere Orientierungsabende dieser Art folgten, die gelegentlich Hunderte von Menschen zusammenbrachten. 1956 antwortete die Ortsgruppe auf die unser Volk aufwühlende Unterdrückung des ungarischen Aufstands durch die Sowjetunion mit einer öffentlichen Kundgebung im Stadthaus. Chefredaktor Peter Dürrenmatt von den «Basler Nachrichten» sprach vor rund 400 Personen. 1958 organisierte die NHG mit anderen Vereinen eine kritische Ausstellung über kommunistische Jugenderziehung, die an die 14‘000 Besucher anzog. 1961/62 sorgte die NHG mit den Parteien und anderen Mitwirkenden für eine «Aktion Zivilverteidigung» mit Vorträgen, einer Ausstellung, Filmvorführungen und einer Zivilschutzübung. Diese Aktion fand eine vierstellige Zahl Interessierter, darunter allein 4000 Schülerinnen und Schüler.

Der Einfluss der Ortsgruppe liess sich auch etwa anhand des Widerhalls in der Öffentlichkeit ermessen. Auf die Brand­ und Sprengstoffanschläge in Winterthur von 1984, denen eine Polizeirazzia und ein Suizid in der Untersuchungshaft folgten, reagierte die NHG wegen der öffentlichen Erregung und verzerrter Medienberichte mit einer fast permanenten Tagung des Vorstands vom 23. bis 26. Dezember und Aufrufen zur Besonnenheit, Rechtsstaatlichkeit und Presseobjektivität, die in den Medien Erwähnung fanden. Als die NHG Winterthur 1988 erstmals in der Schweizer Öffentlichkeit je ein Mitglied der bernischen und der jurassischen Kantonsregierung zu einem Streitgespräch zusammenbrachte, reisten auch Pressevertreter aus dem Welschland an.

Die Volksinitiative zur Abschaffung der Armee konterte die Ortsgruppe mit dem Er­ arbeiten eines gedruckten Manifests mit Pro und Kontra und einer NHG­eigenen, massvoll und sachlich formulierten Ablehnungsempfehlung. 1992 wurde angesichts der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Übung mit einer Aufklärungsschrift in 5‘000 Exemplaren wiederholt. Eine vielseitige Vortragsreihe zu der (schliesslich verworfenen) Abstimmungsvorlage brachte total über 1‘300 Teilnehmer zusammen. Dass sich die gegen Ende des 20. Jahrhunderts mehrfachen Bundesratsreden vor der NHG Winterthur eines grossen Publikumsinteresses erfreuten, war voraussehbar. Im Jahr 1956 war die NHG Winterthur übrigens zu einem Vortrag des deutschen Bundeswirtschaftsministers (und späteren Bundeskanzlers) Prof. Ludwig Erhard, des «Vaters des deutschen Wirtschaftswunders», mit eingeladen, zu dem 500 Zuhörer ins Casino kamen. – Wegen erneut aufgetretener Jugendunruhen widmete die NHG Winterthur, finanziert von gemeinnützigen Institutionen, 1981/82 fast ein ganzes Vereinsjahr von Psychologen geleiteten, vermittelnden Gruppengesprächen zwischen Jungen und Älteren. 1986 begann die NHG Winterthur, die später zustande gekommene Vertretung der Schweiz an den Ministertreffen der frankofonen Staaten mit anzuschieben. – Die im Kanton Zürich 1987 stattfindende Auseinandersetzung darüber, ob der Religionsunterricht in den Volksschulen für fakultativ erklärt werden solle, half die NHG Winterthur für einige Jahre erfolgreich zu beenden. Dies gelang ihr, indem die kantonalen Behörden ihren Kompromissvorschlag eines Pflichtfachs mit Abmeldemöglichkeit übernahmen.

Mitwirken und mitgestalten

In eine Wirkungsgeschichte gehören schliesslich auch die «Werke». Die nationale NHG hat denn auch etliche geschaffen oder mitgestalten geholfen,– Die NHG Winterthur rief zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Hilfsstelle für freiwillige Evakuation Bedürftiger ins Leben, die später in eine Organisation für Nachbarschaftshilfe umgewandelt wurde. In den 1940er­ bis 1960er­ Jahren wirkte die Ortsgruppe in der linterparteilichen Konferenz mit. – Von 1993 bis 1996 stellte die Ortsgruppe mit Jack Brunnschweiler den Zentralpräsidenten. Die damals ausgedünnten personellen Ressourcen der Führung der nationalen NHG veranlassten die Winterthurer Gruppe, im Vorort­System das Büro des Zentralvorstands zu stellen. Es gelang ihr auch, das eingeschlafene, seit 1930 von der nationalen NHG herausgegebene Jahrbuch «Die Schweiz» wieder zu beleben und fortan zu beeinflussen. Von 2006 bis 2010 übernahm die Ortsgruppe die Herausgabe sogar ganz anstelle des Zentralvorstands. Das genannte Winterthurer Büro sorgte nach seiner Amtszeit noch für das auch in Übersetzung erschienene Buch «Etappen zur modernen Schweiz: 1648, 1798, 1848, 1998» als Beitrag zum eidgenössischen Gedenkjahr. Schon zur zentralen Winterthurer Jubiläums­Bundesfeier von 1991 hatte die hiesige NHG mit einer eigenen Tonbildschau den Beitrag der vier schweizerischen Kulturen zum Staatsgedanken der Schweiz illustriert. – Erwähnenswert sind 1961 eine Kommission für Bergbauernfragen, schon 1978/79 Arbeitsgruppen zur Revision der Bundesverfassung, später zu Neutralitätsproblemen und seit Längerem zu dem seit Anbeginn bestehenden Augenmerk der NHG auf das Verhältnis der Sprachgemeinschaften.

Ideelle und gedruckte Spuren

Der Winterthurer Einfluss auf das NHG­Jahrbuch ermöglichte es, dort wesentlich mehr Gedanken und Studien zum Dasein und zur Identität der Schweiz verfügbar zu machen, als es durch die einzelnen Tagungen der nationalen NHG möglich war. Und die Verbreitung über die Region Winterthur hinaus wurde ebenfalls erzielt. Auch in eigener Regie gab die Ortsgruppe in den letzten Jahrzehnten Bücher, Broschüren und Flugblätter heraus. Am gewichtigsten ist wohl die 1991 zur 700­Jahr­Feier der Eidgenossenschaft edierte 360 Seiten umfassende Chronik von Hans Schaufelberger «Die Stadt Winterthur im 20. Jahrhundert» (Auflage: 3053 Stück). Diese fruchtbare Aktivität ist schon deshalb nicht erstaunlich, weil die NHG Winterthur seit vielen Jahren die mitgliederstärkste Ortsgruppe ist. 1994 gelangte sie auf die höchste Mitgliederzahl von 336 Personen. Dass diese Anzahl seither in den Bereich von 200 abgesunken ist, hängt mit dem allgemeinen Rückzug vieler aus längerfristigem staatsbürgerlichem Engagement zusammen, wohl aber auch mit der Zunahme konkurrierender Angebote. Die seit 2002 mögliche Zulassung in der Schweiz wohnhafter Ausländer hat daran nichts geändert. Worauf es ankommt, ist das Vorhandensein einer Handvoll kreativer, tatkräftiger Mitglieder. Die NHG Winterthur hat gerade in den letzten 20 Jahren, in denen die Schweiz vermehrt unter Druck geraten ist, aktuelle Themen aufgegriffen: die Auseinandersetzungen um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und den gescheiterten Solidaritätsfonds des Bundes als Antwort, das unsolidarische Vorpreschen des Kantons Zürich bei seiner Einführung des Frühenglisch­Unterrichts, überhaupt Schule und Jugend, die Frage des Islam, die Integration von Ausländern und das Selbstverständnis der Schweiz, den aufgekommenen polarisierenden Populismus und das nicht mehr störungsfreie Verhältnis mancher Schweizer zum Verfassungs-­ und zum Völkerrecht. Der Stoff und der Auftrag gehen der NHG nicht aus.“

winterthur-glossar.ch publiziert einen Bericht (leicht gekürzt) von Dr. Roberto Bernhard mit der Geschichte der Winterthurer Gruppe der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Roberto Bernhard war bis 1994 als Korrespondent für die NZZ am Bundesgericht tätig. Er lebt in Winterthur. Der Aufsatz ist im Winterthurer Jahrbuch 2015 erschienen.

Bibliografie

    Neue Helvetische Gesellschaft Ortsgruppe Winterthur

    • Einträge ab 2011

      Bernhard, Roberto: Hundert Jahre Neue Helvetische Gesellschaft Winterthur. In: Winterthurer Jahrbuch 2015. S. 143-145. m. Abb.

      Einträge 1991–2010

      Vorortsfunktion: Stadtanzeiger 1993/15.
      Stadtblatt 2008/11


Autor/In:
Heinz Bächinger
Unredigierte Version
Letzte
Bearbeitung:
03.03.2022