Kunst und Kultur

Heidi Bucher

Plastikerin und Aktionskünstlerin, 1926–1993

Die Winterthurer Plastikerin und Aktionskünstlerin Heidi Bucher zählt zu den wichtigsten Schweizer Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Hauptwerk sind ihre «Häutungsaktionen»: Sie überzog historische Innenräume mit einer Latexschicht und zog diese wie eine Haut ab. Trotz internationalem Renommee wurde Ihr Werk in der Schweiz erst posthum gewürdigt: Sie erhielt 1994 den Kulturpreis der Stadt Winterthur und wurde 2023 mit einem eigenen Platz geehrt.


Geburtsort
Winterthur

Geboren
23.02.1926

Gestorben
11.12.1993


Heidi Bucher in Winterthur beim «Ahnenhaus», 1981
Foto: Jan Jedlicka/ Courtesy The Estate of Heidi Bucher

In einer bürgerlichen Hülle aufgewachsen

Heidi Bucher wurde 1926 als Adelheid Hildegard Müller in Winterthur geboren und wuchs in einer bürgerlichen Familie in Wülflingen auf. Sie machte eine Lehre als Damenschneiderin und besuchte von 1944 bis 1947 die Modefachklasse an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Damit beschritt sie genau jenen Werdegang, der für eine Frau aus gutbürgerlichem Haus als angemessen galt. An der Kunstgewerbeschule traf sie auf Dozierende wie Johannes Itten und Max Bill, die damals die Prinzipien des Bauhauses vermittelten, sowie auf die Textilgestalterin Elsi Giauque.

 

Zwischen 1946 und 1956 verlegte sie ihren Wohnsitz nach Paris, Südfrankreich und London. In dieser Zeit vernetzte sie sich in der internationalen Kunstszene und machte mehrere Studienreisen, die sie zwischen 1956 und 1958 auch nach New York führten. In dieser Zeit stellte sie unter anderem Seiden- und Tüllcollagen her, die sie auf ungewöhnliche Träger wie Holz oder Pappe klebte. Ihre Werke wurden 1958 in Basel und in den World House Galleries in New York ausgestellt. 

 

1960 kehrte sie nach Zürich zurück und heiratete den damals noch ganz am Anfang seiner Karriere stehenden Künstler Carl Bucher (1935–2015), mit dem sie zwei Söhne hatte. Das Künstlerehepaar arbeitete nun teils gemeinsam und experimentierte mit Schaumstoff und Vinyl. Heidi Bucher stellte mehrere Serien von biegsamen Skulpturen her, die von Menschen getragen und damit aktiviert werden konnten. Ihre Werke wurden in Nordamerika in mehreren bedeutenden Museen und Galerien ausgestellt. Bei gemeinsamen Ausstellungen wurde die künstlerische Leistung von den Rezipienten vor allem Carl Bucher zugewiesen, während Heidi Bucher jeweils als dessen Muse oder Assistentin portraitiert wurde. Als Ehefrau und Mutter in den 1960er-Jahren entsprach es den gesellschaftlichen Konventionen, dass sie ihr eigenes künstlerisches Schaffen zugunsten ihrer Familie und der Karriere ihres Mannes zurückstellte.

Feministischer Befreiungsschlag in den USA

Als ihr Mann 1970 ein Kunststipendium erhielt, zog die ganze Familie zuerst nach Kanada und dann 1972 nach Kalifornien. Dort kam Heidi Bucher in Kontakt mit der äusserst produktiven und aufstrebenden feministischen Kunst der Neo-Avantgarde. Neue Rollenbilder entstanden und wurden in der Kunst zum Ausdruck gebracht. Heidi Bucher nahm die feministischen Positionen auf, die ihr späteres Werk prägen sollten.

 

1972 schuf sie ihr erstes grosses Werk, die «Bodyshells», eine Gruppe tragbarer Schaumstoffskulpturen. Inspiriert von Muscheln, überzog sie diese mit einer schimmernden Perlmutthaut. Im Rahmen einer Einzelausstellung am LACMA, Los Angeles County Museum of Art schlüpften Heidi und ihr Mann, zusammen mit zwei Kuratoren in die Skulpturen und drehten am Strand von Venice Beach den legendären Film «Bodyshells».  Die Performance ist so inszeniert, dass es aussieht, als sei eine Gruppe neuer Lebensformen am Ufer gestrandet.

Inspiriert und bewegt von den feministischen Impulsen, kehrte Heidi Bucher 1973 in die Schweiz zurück. Noch im selben Jahr ging die Ehe in die Brüche und sie liess sich in Zürich in einem alten Metzgereigebäude nieder. Die ehemaligen Kühlräume dienten ihr als Rückzugsraum und Atelier.

 

Mit Erinnerungen aufgesogene Häute

In ihrem Atelier experimentierte Heidi Bucher mit Latex und beschäftigte sich mit der Verwobenheit von Körpern, Objekten und Räumen sowie mit Geschichte und Erinnerung. So überzog sie gebrauchte Textilien wie alte Decken oder getragene Kleider mit einer dicken Latexschicht. Auf ähnliche Weise behandelte sie auch ein Bett und andere Objekte wie beispielsweise Möbel. Bucher adaptierte damit als erste Künstlerin eine Technik des «Einbalsamierens», die ursprünglich für die Archäologie entwickelt worden war, damit Oberflächen untersuchen werden konnten, ohne das Original zu berühren. Für sie ging es hingegen um die Konservierung der im Objekt aufgesogenen Erinnerung.

Schliesslich wandte sie sich nicht mehr nur einzelnen Objekten, sondern wandte sich ganzen Räumen zu. Dabei bestrich sie die Wände ihres Ateliers mit einer Latexschicht, die sie anschliessend abzog. Diese Schicht enthielt nicht nur das Relief des Raumes, sondern beim Abziehen blieben auch Teile der Farben und Patina am Latex kleben. Auf diese Weise entstand eine «Haut» des Raumes. Diese Häute dienten als Erinnerung- und Geschichtsträger. 1978 nach dem Tod ihrer Mutter Anna Müller, begab sie sich nach Winterthur und überzog das sogenannte Herrenzimmer ihres 1895 errichteten Elternhauses in Wülflingen mit Textil und Latex. Dort hatte ihr Vater Carl Müller – ein erfolgreicher Ingenieur – jeweils seine Jagdtrophäen und seine Waffensammlung aufbewahrt. Der gesamte Prozess des Einbalsamierens mit Latex bis hin zum körperlich anstrengenden Abziehen der „Haut“ gestaltete sie als performativen Akt, den sie mit Fotos und Filmen dokumentierte. Dadurch eignete sie sich den Raum an und riss die alten Rollenverhältnisse förmlich von der Wand. Heidi Bucher verstand die Häutung von historisch belasteter Architektur als ein Ritual der Reinigung. Dabei wickelte sie sich immer wieder selbst in die Häute ein und ummantelte sich somit mit den Räumen und ihren in der Haut gespeicherten Erinnerungen. Danach behandelte sie die Häute weiter und überzog sie häufig mit Perlmuttpigment, womit die Haut eine schillernde Leichtigkeit erhielt.

 

Nach dem Herrenzimmer führte sie Häutungen in weiteren leerstehenden Gebäuden in der Schweiz und im Ausland durch, darunter in der ehemaligen Augenklinik des Universitätsspitals an der Rämistrasse (heute Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich), im stillgelegten Gefängnis in der Gemeinde Le Landeron, in einem verlassenen Hotel in Brissago und in der einstigen privaten psychiatrischen Klinik Bellevue in Kreuzlingen. Die meisten gewählten Gebäude stammten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und waren Repräsentanten des Historismus. 

Drei «Häutungen» in Winterthur

In Winterthur führte Heidi Bucher insgesamt drei Häutungen durch. Neben ihrem Elternhaus behandelte sie die direkt neben der Villa Flora stehende Obermühle. Diese wurde 1980 im Rahmen von Sanierungsarbeiten ausgehöhlt und stand zeitweise leer. Das Gebäude war früher im Besitz von Vorfahren ihrer Familie gewesen, weshalb sie das Werk als «Ahnenhaus» bezeichnete. Am Häutungsprozess waren mehrere Personen beteiligt. Nach der «Abhäutung» folgten mehrere performative Akte. So wurden die Häute eines Zimmers aus dem Haus getragen und im Freien aufgerichtet, wo sie der Witterung ausgesetzt waren. In einem Zeitrafferfilm dokumentierte die Künstlerin den Zersetzungsprozess. Die  «Abhäutung» eines weiteren Zimmers wurden mit einem Kran über das Haus emporgehoben, womit die ursprüngliche Schwere des Raumes aufgehoben wurde.

 

Im Rahmen einer Prozession trugen mehreren Personen diesen «Hautraum» von der Baustelle in die Stadt Winterthur, wo sie über die Treppe des Stadthauses stiegen und dann bis zum Kunstmuseum weiter schritten, wo das Kunstwerk schlussendlich ausgestellt wurde. Die Route war nicht zufällig gewählt: Auch hier trat Bucher in eine direkte Auseinandersetzung mit ausgewiesen repräsentativen Bauten des 19. Jahrhunderts. Während Sempers Stadthaus ein Sinnbild für ein manifestes und unverrückbares Geschichtsbild war, verwiesen Heidi Buchers «Abhäutungen» auf die Wandlung und Vergänglichkeit von Räumen und Konventionen. Ein abgezogenes Fenster der Obermühle wurde ab 1981 in der Mehrzweckhalle beim Teuchelweiher ausgestellt. Während dem Umbau 1984 wurde das Werk entfernt und als Dauerleihgabe dem Kunstmuseum Winterthur übergeben.

1988 häutete sie mit der Villa Lindgut ein weiteres Bürgerhaus. Für sie waren die Bauten des Historismus allesamt Zeitzeugnisse einer patriarchalen Herrschaftsstruktur. Genau diese bürgerlichen Repräsentationskonventionen und tradierten Machtverhältnisse standen im Zentrum ihrer Kritik. Als in den 1980er-Jahren viele Bauten des Historismus abgerissen werden sollten, setzte sich Heidi Bucher für deren Erhalt respektive Umnutzung ein. 

«Räume sind Hüllen, sind Häute». Produziert von George Reinhart, Winterthur, 1981. 32 Min. Realisation und Kamera Lukas Strebel, Textredaktion Peter Killer.

Rückzug auf Lanzarote

Ihren letzten Lebensabschnitt verbrachte die Künstlerin an ihrem neuen Rückzugsort in Lanzarote. Die gewollte Nähe zum Meer und dem Element Wasser war bezeichnend. In ihren Werken gibt es immer wieder Bezüge zum Meer. Ein wichtiges Symbol für die Künstlerin war auch die Libelle, die im Zuge ihrer Metamorphose aus der Larvenhaut schlüpft und danach davonfliegt. 

Wiederentdeckung und posthume Würdigung

Obwohl Heidi Bucher schon zu Lebzeiten auf internationaler Ebene in renommierten Galerien und bedeutenden Museen ausstellen konnte und ihr künstlerischer Ausdruck nicht nur technisch innovativ, sondern auch spektakulär war und eine hohe gesellschaftspolitische Bedeutung besass, wurde sie von den Kunstsammlern und Museumsdirektoren in der Schweiz nur wenig beachtet. Im Alter von 67 Jahren erlag Heidi Bucher 1993 einem Krebsleiden. 1994 erhielt sie posthum den Kulturpreis der Stadt Winterthur. Danach geriet die Künstlerin weitgehend in Vergessenheit.

Erst 2004 würdigte das Migros-Museum für Gegenwartskunst ihr Wirken mit einer grossen Ausstellung. 2021–2022 eröffnete unter dem Titel «Metamorphosen» Das Haus der Kunst München und dann anschliessend zusammen mit  dem Kunstmuseum Bern und dem Museum Susch eine erste grosse Retrospektive auf das Wirken von Heidi Bucher. Während ihre Kunst zu Lebzeiten überwiegend mit Fokus auf ihre biografischen Bezüge diskutiert und eingeordnet wurde, wird sie gegenwärtig vor allem im Kontext von feministischer- und postminimalistischer Kunstpraktiken rezipiert, und auch ihre gesellschaftspolitischen Positionen werden diskutiert.

Ihre Werke sind in zahlreichen Museen und Sammlungen weltweit vertreten. u.a. MOMA Museum of Modern Art, New York / MET Metropolitan Museum of Art, New York / Guggenheim Museum, New York / Art Institute of Chicago / The Hammer Museum L.A. / Centre Pompidou, Paris / The Israel Museum, Jerusalem / Zhuzhong Museum, Beijing / Kunsthaus Zürich / Kunsthaus Zug / Kunstmuseum Luzern / Migrosmuseum für Gegenwartskunst Zürich und dem Kunstmuseum Winterthur.

2023 wurde der geplante Bahnhofsplatz beim Bahnhof Grüze nach der Künstlerin benannt. 




Benutzte und weiterführende Literatur:

Arnold, Meret: Häuser häuten - die verspätete Entdeckung von Heidi Bucher, in: swissinfo.ch, 06.05.2022.
Meier, Philipp: Sie riss die Fassade alter Geschlechterrollen herunter – nun wird Heidi Bucher in der Schweiz endlich gebührend gewürdigt, in: NZZ Online, 11.04.2022.
Baumann, Jana u. a.: Heidi Bucher. Metamorphosen. Publikation anlässlich der Ausstellung im Haus der Kunst München von 17. September 2021 bis 13 Februar 2022, Berlin 2021.
Moises, Jürgen: Heidi Bucher, Metamorphosen: «Ich war das, was mich umgeben hat», in: artline, 10.12.2021.
Keller, Julia: Heidi Bucher, in: sikart.ch, 2019.
Gmür, Martin: Winterthurer Kunst an der Biennale in Venedig, in: Der Landbote, 10.07.2017.
Preisig, Barbara: Umhausungen des Körpers: Die Räumlichkeit des Textilen im Werk von Heidi Bucher, in: Kunst + Architektur in der Schweiz 62, 2011.
Affentranger-Kirchrath, Angelika: Der Libelle abgeschaut, in: NZZ-Online, 23.11.2004.
Edition Winterthur: Heidi Bucher.

Bibliografie

    Bucher, Heidi, 1926-1993, Kunstmacherin

    • Einträge ab 2011

      Moon, Je Yun; Park, Miran (Hrsg.): Heidi Bucher: Spaces Are Shells, Are Skins. Art Sonje Center, Seoul, 2023. 143 S., ill.

      Einträge 1991–2010

      Ausstellungen. Weisses Haus: Landbote 1993/150 1Abb.
      Kartause Ittingen: Zürcher Oberländer 1993/193 1Abb.
      Anerkennungsgabe Winterthur 1993: Landbote 1993/274, 1994/19 1Abb. - Winterthurer Arbeiterzeitung 1993/274. - Zürcher Oberländer 1994/19 1Abb.
      Landbote 1993/290 1Abb., 293 von Rudolf Koella, m.Abb. - NZZ 1993/294 S.24 von Angelika Affentranger-Kirchrath, 1Abb.
      Ausstellung Migrosmuseum Zürich: Landbote 2004/272 von Martin Kraft, 1Abb. - NZZ 2004/274 S. 54 von Angelika Affentranger-Kirchrath, 1Abb. - Tages-Anzeiger 2004/279 1Abb.


Autor/In:
Nadia Pettannice
Letzte
Bearbeitung:
03.08.2023