Wissenschaft

Robert Stierlin

Arzt, Spitaldirektor und Insektenforscher, 1862–1928

Robert Stierlin war Arzt und Chirurg. Während fast 24 Jahren leitete er als Direktor das Kantonsspital Winterthur. Daneben beschäftigte er sich von seiner Jugend bis zum Tod als engagierter Insektenforscher. Sein Lebenswerk umfasst verschiedene medizinische und naturkundliche Publikationen sowie eine eindrückliche Schmetterlingssammlung.


Geburtsort
Schaffhausen

Geboren
01.10.1862

Gestorben
28.02.1928


Robert Stierlin leitete über 24 Jahre lang als Klinikdirektor die Geschicke des Kantonsspitals, Aufnahme 1915.
Foto: winbib (Signatur 172449)

Werdegang

Robert Stierlin wurde 1862 in Schaffhausen geboren. Seine gesamte Schulzeit verbrachte er in Schaffhausen, wo er im Jahr 1881 die Maturitätsprüfungen mit Bravour bestand. Bereits in seiner Jugendzeit galt sein grosses Interesse den Insekten. In seiner Freizeit züchtete und sammelte er Schmetterlinge und verkaufte ihre Eier an seine Mitschüler. Trotzdem entschied er sich für das Medizinstudium.

Studium und Tätigkeit als Assistenzarzt

Stierlin studierte an den Universitäten Zürich und Strassburg und bestand 1886 das Staatsexamen zum Arzt. Seine erste Berufserfahrung erlangte er als Assistenzarzt am Kinderspital Zürich. Aus dieser Zeit weiss Dr. med. Th. Vogelsanger in seinem Nachruf über Robert Stierlin Amüsantes zu berichten: «Sein Verständnis für die Seele der Kinder, auch der kleinsten, mag eine kleine Episode zeigen, die sich in dieser Zeit abspielte. Als er einmal der Kinderschwester gegenüber seine Bewunderung für einen kräftigen, wohlgenährten Säugling ausdrückte, meinte diese, wenn er das Kind nachts hüten müsste, würde er weniger Freude an ihm haben. Und in der nächsten Nacht öffnete sich plötzlich die Türe zum ärztlichen Schlafzimmer, herein trat die Schwester mit einem schreienden Säugling auf den Armen, den sie lächelnd an die Seite des anfangs etwas erstaunten Arztes legte. Dieser fand sich aber schnell in die Situation, beruhigte das Kind bald, und beide schliefen friedlich neben einander bis am Morgen.»

Während seiner Tätigkeit am Kinderspital schrieb Stierlin seine erste wissenschaftliche Arbeit «Blutkörperchen-Zählungen und Haemoglobinbestimmungen bei Kindern», die im Jahr 1889 als Inauguraldissertation veröffentlicht wurde. Nach zwei Jahren am Kinderspital wechselte er zur Chirurgischen Klinik Zürich, wo er sich auf dem Gebiet der Chirurgie weiterbildete und 1890 zum Oberarzt aufsteigen konnte.

Auslandjahre in Bulgarien

Mit drei Jahren Praxiserfahrung als Chirurg in Zürich folgte Stierlin einem Ruf als chirurgischer Chefarzt ans Alexanderspital in Sofia, Bulgarien. Die neue Tätigkeit stellte ihn vor einige Herausforderungen, kannte er doch weder das Spital noch die Sprache und Kultur des Landes. Mit der Zeit gelang es ihm aber, das Vertrauen des Spitalpersonals und der Patientenschaft zu gewinnen, indem er aus dem primitiven Spital eine moderne Gesundheitseinrichtung schaffte und erste Erfolge verzeichnen konnte. Er organisierte das Spital von Grund auf neu, bis es seinen damaligen Ansprüchen an Hygiene für chirurgische Eingriffe genügte. Während vorher die Leute ins Spital eingetreten waren um zu sterben, wurde es damit möglich, Operationen erfolgreich durchzuführen und schwer kranke Patienten geheilt zu entlassen. Stierlin durfte dafür eine grosse Dankbarkeit der betroffenen Menschen und einen guten Ruf in ganz Bulgarien ernten.

Rückkehr in die Schweiz und Tätigkeit als Spitaldirektor in Winterthur

Um 1898 kehrte Robert Stierlin auf Grund politischer Umwälzungen in Bulgarien und aus Sehnsucht nach der Heimat in die Schweiz zurück. Auch hier war man auf den talentierten jungen Chirurgen aufmerksam geworden. Um 1899 wurde ihm die Stelle als Direktor des Kantonsspitals Winterthur (KSW) angeboten, die er gerne annahm. Während fast 24 Jahren leitete er das Spital in vorbildlich organisierter und für das Wohl der Patienten engagierter Weise. Dank Stierlins Organisationstalent und Sinn für das Praktische konnte das kleine Stadtspital mehrfach ausgebaut werden und beherbergte mit der Zeit verschiedene Abteilungen mit unterschiedlichen medizinischen Disziplinen und einem guten Ruf. Auch das Menschliche kam unter seiner Leitung nicht zu kurz, was den Spitaldirektor allen zum sympathischen und verständnisvollen Gegenüber machte. Stierlin war es auch, der sich unter anderem mittels Zeitungsbericht für die Anschaffung des ersten motorisierten Krankenwagens einsetzte und zwar mit folgendem Argument: «Das Auto frisst we­der Ha­fer noch Heu, braucht kei­ne Stall­wa­che, pro­du­ziert kei­nen Dün­ger, wird, wenn es ei­ner erst­klas­si­gen Fir­ma ent­stammt, sel­ten krank und führt sei­ne Auf­trä­ge mit er­staun­li­cher Prompt­heit aus.» 1918 erhielt das Kantonsspital dann tatsächlich den ersten Krankenwagen, der die Pferdekutsche ersetzte.

Während seiner ganzen Tätigkeit als Arzt beschäftigte sich Stierlin immer wieder auch wissenschaftlich und veröffentlichte seine Beobachtungen und Erkenntnisse in wissenschaftlichen Berichten. Seine bedeutendsten Publikationen stammen aus seiner Zeit als Spitaldirektor in Winterthur. Die Liste seiner wissenschaftlichen Arbeiten enthält beispielsweise Titel wie «Schädelstreifschuss mit isolierten Basisfrakturen» aus der Deutschen Zeitschrift für Chirurgie 1900 (Bd. 55, S. 198) oder «Ueber Spätwirkungen der Chloroformnarkose», Mitteilung aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1911 (Bd. 23, S. 408).

Als in den 1920er Jahren die ersten Automobile auf den Strassen Winterthurs aufkamen, war Dr. med. Robert Stierlin einer der Wenigen, die damals bereits motorisiert zum Arbeitsplatz pendelten. So konnte er in seiner Heimat Schaffhausen wohnen und gleichzeitig in Winterthur arbeiten.

Ruhestand in Stein am Rhein

Mit 60 Jahren und bei bester Gesundheit beschloss Stierlin, sich aus der Medizin zurückzuziehen und sich ganz seiner langjährigen Leidenschaft, der Insektenforschung zu widmen. Auf seinem Landgut in Stein am Rhein sowie in der näheren Umgebung beobachtete, sammelte und präparierte er Schmetterlinge. In seiner wissenschaftlichen Publikation «Die Schmetterlingsfauna des Kantons Schaffhausen und der angrenzenden Gebiete», die 1927 erschien und mit der er die von Hermann Pfähler begonnene Arbeit zu Ende führte, sind sämtliche in der Region Schaffhausen beobachteten Tag- und Nachtfalterarten erfasst und systematisch aufgelistet. Sein grosser Stolz war jedoch seine Schmetterlingssammlung, in der er alle heimischen Arten der Familien der Lycaeniden (Bläulinge) und Zygaenen (Widderchen) übersichtlich organisiert hatte.

Leider blieb Stierlin ein langer Ruhestand verwehrt, bereits 1928 erlag er innert kurzer Zeit einer heimtückischen Krankheit. Seine Schmetterlingssammlung wurde nach seinem Tod dem Museum Winterthur (heute Naturmuseum Winterthur) übergeben.


Benutzte und weiterführende Literatur:

Vogelsanger, Th.: Dr. med. Robert Stierlin, Zeitschrift: Mitteilungen der naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen, 1928. Publikation auf e-periodica [zuletzt abgerufen 27.7.2022].
Pfähler-Ziegler, H. & Stierlin: Die Schmetterlingsfauna des Kantons Schaffhausen und der angrenzenden Gebiete, Zeitschrift: Mitteilungen der naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen, 1927. Publikation auf e-periodica [zuletzt abgerufen 27.2.2022].
Betschart, Andres: Kran­ken­au­to statt Pfer­de­wa­gen, [zuletzt abgerufen 09.12.2022].
Neues Winterthurer Tagblatt, 20.12.1916.

Bibliografie


Autor/In:
Katrin Junker
Letzte
Bearbeitung:
03.02.2023