Leonie Moser wurde bei Stellenantritt vor ihrem zukünftigen Vorgesetzten, Dr. Hans Rudolf Schinz, gewarnt. Regelmässig beschimpfe Schinz das weibliche Hilfspersonal als unfähig und sei kaum zufriedenzustellen. Dennoch fühlte sich Moser wohl. Sie liebte es, am Puls neuster Entwicklungen zu sein und bewunderte den 31-jährigen Institutsleiter für seinen Ehrgeiz.
Die Röntgentechnologie befand sich um 1920 noch in den Pionierjahren. Die Apparate bestanden aus mehreren Elementen und waren mobil. Die technischen Anforderungen waren hoch und es fehlte an Standardisierungen. Röntgenschwestern mussten die Verfahren durch Ausprobieren optimieren und das Verhalten der Geräte genau protokollieren. Sie waren für die Lagerung der Patient:innen, die Durchführung des Röntgens, die Entwicklung der Bilder und die Pflege der teuren Apparate zuständig. Deren Kernstück war die gläserne Röntgenröhre, wo die Strahlung elektrisch erzeugt wurde. Wenn die Strahlung zu hoch oder zu tief dosiert wurde, konnten diese Röhren weich respektive hart werden und im schlimmsten Fall implodieren. Erfahrene Röntgenschwestern konnten alleine durch betasten «ihrer Röhren» einschätzen, wie sie zu regenerieren sind. Obwohl Technik traditionell als männliche Sphäre galt, warben die Spitäler bereits ab 1900 gezielt Frauen als Hilfspersonal an. Sie waren nicht nur günstiger, sondern entsprachen auch den Erwartungen von Privatpatient:innen. Gerade bei bürgerlichen Frauen stellte das entblössen des Körpers vor fremden Männer noch immer ein Tabu dar.
Erfahrene Fachkräfte wie Leonie Moser waren rar, und so wurde häufig auf ungelernte Volontärinnen zurückgegriffen. Aufgrund mangelnder Kenntnisse kam es gelegentlich zu Unfällen, was empfindliche Rechtsstreitigkeiten nach sich zog. Um eine ausreichende Qualität sicherzustellen, erarbeitete Dr. Schinz gemeinsam mit Leonie Moser und dem restlichen Hilfspersonal 1928 ein über tausendseitiges Lehrbuch für die Röntgendiagnostik, das Schinz eine Professur und Leonie Moser eine kostenlose Ausgabe als Lohn einbrachte. Von Leonie Moser erwartete er, dass sie ihre Krankenschwestern und Volontär:innen nun auch lehrbuchkonform ausbildete. Mit der Einführung solcher Lehrbücher, aber auch der stetigen Verbesserung und Automatisierung der Röntgengeräte wurde die Stellung der Röntgenschwestern sukzessive geschwächt. Was früher durch intensive Aneignung und stetes Experimentieren mühsam als Erfahrungswissen angeeignet wurde, lag nun in Form standardisierter Dosierungstabellen vor.
Um eine Deklassierung der Röntgenschwestern zu verhindern, begann sich Moser energisch für die Schaffung einer geregelten Berufsausbildung für Röntgenassistentinnen einzusetzen und forderte bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Dadurch sollte einen berufliche und finanzielle Existenz gesichert werden. Entsprechend wichtig war für sie der Auftritt bei der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) im Jahr 1928, wo erstmals die Tätigkeit der Röntgenschwester einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurde. Für diese Ausstellung publizierte Moser ihren ersten Artikel. 50 weitere sollten im Verlauf ihrer beruflichen Laufbahn folgen.