Vereine und Verbände
Verein Frauenstadtrundgang Winterthur (FSRW)
Römerstrasse 6
Der Verein Frauenstadtrundgang Winterthur wurde 1997 von fünf Geisteswissenschaftlerinnen gegründet. Der Verein führt szenische Stadtrundgänge in Winterthur durch. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen auf der lokalen Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte. Das Markenzeichen ist die szenische Vermittlung der Inhalte. Seit seiner Gründung setzt sich der Verein für mehr Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ein. Deshalb macht der Verein auch Vorschläge für Strassenbenennungen.
Adresse
Verein Frauenstadtrundgang Winterthur
Römerstrasse 6
8400 Winterthur
2020: Vitodura - die Schutzherrin der Stadt übernimmt gleich selbst die Rolle der Stadtführerin
Foto: zVg. Verein Frauenstadtrundgang Winterthur
Frauenstadtrundgänge in Deutschland und der Schweiz
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spielten Frauen in der traditionellen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle. Im Zuge der Neuen Frauenbewegung kritisierten Historikerinnen den sogenannten männerzentrierten Blick auf die Vergangenheit und forderten die systematische Erforschung der Frauengeschichte und ihre Berücksichtigung in den universitären Lehrplänen. In diesem Kontext entstanden in den späten 1970er-Jahren in Deutschland die ersten Frauenstadtrundgangsvereine mit dem Ziel, die lokale Frauengeschichte zu erforschen und einem breiten Publikum bekannt zu machen.
Historikerinnen der Frauengruppe Köln stellten an der 5. Historikerinnentagung in Bern 1988 ihre Arbeit vor. Dieser Vortrag löste eine Gründungswelle von Frauenstadtrundgangsvereinen in mehreren Schweizer Städten aus, darunter in Basel, Zürich, Luzern, Freiburg und Genf.
Verborgene Geschichte sichtbar machen
Inspiriert vom Zürcher Vorbild, initiierte 1997 die Winterthurerin Monika Imhof, damals Germanistik- und Geschichtsstudentin, die Gründung eines eigenen Vereins in der Eulachstadt. In einem Inserat, das sie im damaligen Frauenzentrum im «Bauhof» an der Steinberggasse aufhängte, suchte sie weitere Interessierte. Es meldeten sich vier Frauen: Die Sozialwissenschaftlerin Silvia Bärtschi-Baumann und die damaligen Geschichtsstudentinnen Barbara Heuberger-Brauchli (sie war bereits im Verein Frauenstadtrundgang Zürich aktiv), Marianne Ingold und Helen Girardier. Ihr gemeinsames Ziel: Einen lokalen Stadtrundgang anzubieten, der die bislang verborgen gebliebene Geschichte der Frauen in Winterthur zum Inhalt haben sollte.
Frauengeschichte war in Winterthur bis dato kaum aufgearbeitet worden. Kein Standardwerk, wenig Sekundärliteratur, und nur einzelne Artikel, Hinweise in Familienchroniken und Jubiläumsschriften waren vorhanden. Nicht einmal auf den Stammbaumtafeln waren die Frauen immer aufgeführt, fast so, als ob die Männer ihre Stammhalter selbst geboren hätten. Es wartete viel Grundlagenforschung auf die Vereinsgründerinnen, vor allem in der Handschriftenabteilung der Stadtbibliothek (heute Sammlung Winterthur) sowie im Stadtarchiv Winterthur und Staatsarchiv Zürich.
Jubiläumsprojekt aller Frauenstadtrundgänge in der Schweiz 1998
1998 fanden in der Schweiz Feierlichkeiten zum 150-Jahr-Jubiläum des schweizerischen Bundesstaates – und zum 200-Jahr-Jubiläum der Helvetischen Republik statt. Neun Frauenstadtrundgangsvereine schlossen sich zum Dachverband «FemmesTourCH» zusammen und bewarben sich beim Bundesamt für Kultur (BAK) erfolgreich um Fördermittel. Unter dem Projekttitel «Was Frauen tun, wenn Männer Staaten gründen» erarbeiteten rund 50 Historikerinnen aus der Deutsch- und der Westschweiz insgesamt neun Stadtrundgänge, die sich mit der Frauengeschichte im Zeitraum zwischen Helvetik und dem Bundesstaat beschäftigten. Dabei zeigten sie auf, wie sich Frauen mit «Geld, Geist und Geduld» am gesellschaftlichen Aufbau des schweizerischen Bundesstaates beteiligt hatten. In Winterthur feierte am 9. Mai 1998 der erste Frauenstadtrundgang mit dem Titel «Sulzer, Rieter, Furrer & Co. – Winterthurer Frauen 1798 bis 1848» Premiere. Beim anschliessenden Apéro hielt die damalige, erste Stadträtin von Winterthur, Aurelia Favre, die Laudatio. Auch alt Stadtpräsident Urs Widmer, der die Recherchen unterstützt hatte, liess es sich nicht nehmen, den jungen Vereinsgründerinnen zu gratulieren.
Nach den Feierlichkeiten löste sich der Dachverband «FemmesTourCH» auf. Die Vereine entwickelten sich unabhängig voneinander mit eigenen inhaltlichen und gestalterischen Ausrichtungen.
Das Winterthurer Konzept: Inszenierte Geschichte im öffentlichen Raum
Hauptmerkmal des Vereins Frauenstadtrundgang Winterthur ist die konsequente Kombination von Wissenschaft und Theater. Weil es den Vereinsgründerinnen ein Anliegen war, die Geschichte nicht einfach zu erzählen, sondern zu einem Erlebnis zu machen, das lange in Erinnerung bleibt, setzten sie von Beginn an auf szenisches Vermittlungsformat. Um die wissenschaftlich erarbeiteten Inhalte in Szene zu setzen, holten sie die Schauspielerin und Historikerin Irène Trochsler-Betschart ins Team. Von 2014 bis 2023 arbeitete der Verein mit der Winterthurer Schauspielerin und Regisseurin Sabina Deutsch zusammen.
Für die Erarbeitung der Drehbücher wird jeweils eine Recherchegruppe bestehend aus mehreren Historikerinnen und einer Theaterfachfrau gebildet. Nach Festsetzung des Themas und ersten Recherchen wird das Material ausgesucht, nach Möglichkeiten Originalschauplätze identifiziert und eine stimmige Route entwickelt. Danach werden die Inhalte in Form von Dialogen in eine szenische Form gebracht. Bei der Drehbuchumsetzung müssen dabei immer wissenschaftliche sowie dramaturgische Grundsätze und Bedürfnisse berücksichtigt werden. Durch das Schauspiel erhalten historische Persönlichkeiten einen Körper, eine Stimme und ein eigenes Auftreten. Nach der Drehbucherarbeitung werden die einzelnen Szenen eingeprobt und auch passende Kostüme sowie Requisiten entworfen. Da die Stadtführungen im öffentlichen Raum stattfinden, müssen die Kostüme transportiert und vor Ort gewechselt werden können.
Während die Gründungsfrauen im ersten Rundgangsjahr alles selber bestritten, also den Vereinsvorstand repräsentierten, sich um die Finanzierung kümmerten, mithilfe von hinzugezogenen Historikerinnen recherchierten und die zehn Rundgänge im Jahr 1998 führten, ist der Verein mit den Jahren personell wie auch an der Anzahl Rundgänge gewachsen. Inzwischen kümmert sich ein Vorstand um die strategischen und finanziellen Belange. Seit einigen Jahren verfügt der Verein über eine eigene Geschäftsstelle. Für die Erarbeitung eines neuen Rundgangs werden jeweils Historikerinnen gesucht, die zusammen mit einer Projektleiterin und einer Theaterfachfrau recherchieren und die Drehbücher erstellen. Die Stadtführungen werden von den Aktivmitgliedern eingeprobt und durchgeführt. Eine Besonderheit des Frauenstadtrundgangs Winterthur ist, dass aufgrund der szenischen Form immer drei Stadtführerinnen pro Rundgang unterwegs sind, die in verschiedene Rollen schlüpfen.
Schrittweise erweiterte der Verein auch seine Produktepalette: Es kamen szenische Vorträge, die auf einer Bühne gezeigt werden können, sowie Rundgänge für Schülerinnen und Schüler hinzu. Zudem wurden in zwei Publikationen die ersten neun Rundgänge schriftlich festgehalten. Sie bilden bis heute eine wichtige historische Grundlage für die Winterthurer Frauengeschichte. 2004 würdigte die Stadt den Verein mit dem Kulturpreis.
Für mehr Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum
Bis 2003 gab es in Winterthur lediglich vier nach Frauen benannte Strassen, die allerdings kaum bekannt waren, nämlich die Agnesstrasse, die Gertrudstrasse, der Friedliweg und die Sulzbergstrasse. Anlässlich des Frauenstreiks von 1991 wurde die Forderung nach einer grösseren Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum laut. In diesem Kontext schlugen vier SP-Gemeinderätinnen in Winterthur vor, den «Holderplatz» nach einer Vorreiterin des Frauenstimmrechts umzubenennen. Die Stadt unterstützte das Anliegen, wollte jedoch keinen bestehenden Platz umtaufen. Stattdessen sollten Frauen beim nächsten grösseren Projekt berücksichtigt werden. Als es 2003 darum ging, neugebaute Strassen in Hegi sowie den zentral geschaffenen Platz auf dem Sulzerareal zu benennen, arbeitete das Tiefbauamt mit dem Verein Frauenstadtrundgang Winterthur zusammen. Die im Verein engagierten Historikerinnen stellten eine Liste mit konkreten Namensvorschlägen zusammen, die von den Behörden geprüft wurden und zum Teil Gehör fanden: Der Platz auf dem Sulzerareal wurde «Katharina-Sulzer-Platz» genannt, nach der Mutter der Gebrüder Sulzer. Weiter wurden drei neue Strassen in Hegi nach bedeutenden Frauen benannt: nach Ida Sträuli-Knüsli, Else Züblin-Spiller und Anna Barbara Reinhart.
Im Jahr 2008 reichte der Verein weitere Namen weiblicher Persönlichkeiten für die Benennung neuer Strassen im Dättnau ein. Ausgewählt wurden: Julie Bikle, Hedy Hahnloser, Maria Kübler und für den Elisabethenweg standen gleich zwei Frauen Patin, nämlich Prinzessin Elisabeth von Ungarn sowie die Dominikanerin Elisabeth von Stagel. 2023 konnte der Verein erneut einen Namen einer verdienstvollen Frau platzieren: In Oberwinterthur wird eine grosse neue Brücke nach der Röntgenpionierin Leonie Moser benannt. Die «Leonie-Moser-Brücke» soll 2026 fertiggestellt sein.
Benutzte und weiterführende Literatur:
Femmes Tour (Hg.): Mit Geld, Geist und Geduld. Frauen und ihre Geschichte zwischen Helvetik und Bundesstaat, Bern, 1998.
Bärtschi-Baumann, Sylvia; Girardier, Helen; Heuberger-Brauchli, Barbara; Imhof, Monika; Ingold, Marianne: Sulzer, Rieter, Furrer & Co.. Der Frauenstadtrundgang Winterthur, in: Winterthurer Jahrbuch 2000, Winterthur 1999, S. 67–95.
Verein Frauenstadtrundgang Winterthur: Frauenblicke. Vier Stadtrundgänge durch Winterthur, Winterthur, 2006.
Stadtbibliothek Winterthur (Hg.): Schauplätze. Der Verein Frauenstadtrundgang Winterthur inszeniert Geschichte(n). Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur, Winterthur, 2015.
- Autor/In:
- Regina Speiser
- Letzte
- Bearbeitung:
- 04.07.2023