Politik

Sibyll Kindlimann

Historikerin, Politikerin (FDP), Rektorin, *1933

Sibyll Kindlimann gehört zu den ersten beiden Frauen, die 1974 in den Grossen Gemeinderat gewählt wurden. 1986 war sie die erste Rektorin einer Zürcher Kantonsschule, 1987 auch die erste Gemeinderatspräsidentin. Daneben war sie aktive Pfadfinderin und im Archivwesen tätig.


Geburtsort
Schwanden (GL)

Geboren
16.09.1933


Sibyll Kindlimann politisierte 20 Jahre lang im Grossen Gemeinderat und blieb bis zu ihrer Pensionierung Rektorin der Kantonsschule Rychenberg. Aufnahme von 1994.
Foto: winbib (Signatur FotLb_003865)

Jugend und Schule

Sibyll Kindlimann wurde am 16. September 1933 geboren. Sie wuchs mit ihren drei älteren Brüdern auf einem Hof in Schwanden im Kanton Glarus auf. Ihre Primarschulzeit fiel in die Kriegsjahre 1939 bis 1945. Dem Vorbild ihrer Brüder folgend, trat die 11-jährige 1944 dem Bund der Schweizer Pfadfinderinnen (BSP) bei. Bei der Pfadfindertaufe erhielt sie den Namen «Bill».

Nach der Primarschule besuchte sie die Höhere Stadtschule in Glarus. Da diese Schule damals noch keine anerkannten Maturitätsabschlüsse anbieten konnte, wechselte Kindlimann an die Höhere Töchterschule in Zürich. Dort musste sie aufgrund ihrer Glarner Herkunft als einzige Schülerin eine Aufnahmeprüfung absolvieren, welche sie dank guter und disziplinierter Vorbereitung bestand.

Geschichtsstudium

Kindlimann studierte Geschichte und Romanistik an der Universität Zürich und besuchte vorzugsweise die Vorlesungen des damals als Querkopf geltenden und umstrittenen Historikers Marcel Beck. Als sie bei Beck doktorieren wollte, riet dieser ihr zuerst von dem Unterfangen ab, da er befürchtete, dass Kindlimann als Frau keine Anstellung als promovierte Historikerin finden würde. Sie liess sich davon nicht beirren und bat um ein Thema, das nichts mit einer Schlacht in der Schweiz zu tun hat. Beck schlug vor, «die Eroberung von Konstantinopel als politische Forderung des Westens im Hochmittelalter» zu untersuchen. 1960 brachte sie die Dissertation erfolgreich zum Abschluss.

Gemeinsam mit Marcel Beck und dem Altphilologen Peter Frei organisierte Kindlimann in den 1950er- und 1960er-Jahren mehrere Studierendenreisen in den damals touristisch noch kaum erschlossenen Orient. 

Kindlimann als engagierte Pfadfinderin

Ein wichtiger Pfeiler und eine Konstante im Leben von Sibyll Kindlimann war die Pfadfinderbewegung. Als Kindlimann 25 Jahre alt war, machte die damals vorzeitig zurücktretenden Präsidentin des Bundes Schweizerischer Pfadfinderinnen (BSP), Perle Bugnion, von ihrem statuarischen Recht Gebrauch, ihre Nachfolge gleich selbst zu sichern. Damit leitete sie eine Verjüngung in der Bundesleitung ein, was allerdings nicht von allen goutiert wurde. In den 1980er-Jahren stand eine Fusion mit den männlichen Pfadfindern im Raum. Die Pfadfinderinnen zeigten sich jedoch skeptisch, da sie den Verlust ihrer Aufstiegschancen befürchteten. Sibyll Kindlimann gehörte dem Fusionsgremium an, das aus zehn Männern und zehn Frauen bestand, und führte die Frauendelegation an. Diese sorgte dafür, dass wichtige Gleichstellungsgrundsätze in den Statuten der 1987 ins Leben gerufenen Pfadibewegung Schweiz (PBS) verankert wurden. Es handelte sich in Sachen Gleichstellungen um eine der fortschrittlichsten Satzungen jener Zeit. Als intensiv erlebte Kindlimann auch die Zeit der Jugendunruhen um 1968 und in den 1980er-Jahren. In dieser Zeit betraute die Pfadi ihren jungen Nachwuchs verstärkt mit Leitungsfunktionen, damit sie Verantwortung tragen konnten und auch ein Mitspracherecht erhielten.

Traditionell rekrutierte das Rote Kreuz einem Abkommen mit der Schweizer Armee folgend jeweils neben Krankenschwestern und Laborantinnen auch Pfadfinderinnen für den Rotkreuzdienst. Diese Frauenkompanie bildete mit anderen Männerkompanien das Sanitätsbataillon. Kindlimann meldete sich für den Rotkreuzdienst und stieg bis zum Grad eines Hauptmanns auf. Dadurch kam sie in den Genuss militärstrategischer Ausbildungskurse und leitete bis 1991 die Frauenkompanie. 

Erste Rektorin einer Deutschschweizer Kantonsschule

Beruflich bewarb sich Kindlimann als Hauptlehrerin für Geschichte und Romanistik an der Kantonsschule Rychenberg. Beim ersten Versuch wurden allerdings von der Wahlkommission zweifel erhoben, ob eine Frau überhaupt in der Lage ist, militärhistorische Ereignisse wie Schlachten korrekt zu vermitteln. Beim zweiten Anlauf klappte es mit der Wahl. 1986 wurde sie zur ersten Rektorin im Kanton Zürich gewählt und sie blieb lange Zeit die einzige Rektorin der Deutschschweiz.

«Herr Ratspräsidentin!»

Als im Kanton Zürich 1969 auf Gemeindeebene das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt wurde, wollte Kindlimann auch politisch Verantwortung übernehmen. Aufgrund eines Rekurses der Frauenstimmrechtsgegner konnten sich bei den Gemeinderatswahlen 1970 noch keine Frauen wählen lassen. 1974 war es dann soweit: 61 Kandidatinnen unterschiedlichster Parteien stellten sich zur Wahl. Den Sprung in den Grossen Gemeinderat schafften aber nur Sibyll Kindlimann (FDP) und Verena Büchi (NA). Kurz nach ihrer Wahl wurde Sibyll Kindlimann in die prestigeträchtige Rechnungsprüfungskommission gewählt. 1987 folgte die Wahl zur ersten Gemeinderatspräsidentin. Die Parlamentarier mussten sich an die Umstellung gewöhnen und ein Gemeinderat eröffnete seine Anrede aus reiner Gewohnheit versehentlich mit «Herr… Ratspräsidentin».

Dreimal wurde eine Einladung für eine Stadtratskandidatur an sie herangetragen, doch Kindlimann schlug diese Angebote aus, weil sie ihre Arbeit in der Kantonsschule als wichtiger einschätze als einen Sitz in der Exekutive. Als Lokalpolitikerin setzte sie sich auch für die Kultur in der Stadt Winterthur ein. Nachdem der Stadtrat 1993 die Umsetzung der Judd-Brunnen in der Steinberggasse aus Kostengründen abgelehnt hatte, sprangen Private aus dem Umfeld der FDP und der örtlichen Geschäfte in die Bresche und gründeten den Verein «Judd-Project», den Sibyll Kindlimann präsidierte. Dank dieser Initiative konnten die Judd-Brunnen 1997 doch noch feierlich der Stadt Winterthur übergeben werden. Ebenfalls setzte sie sich für die Umwandlung der Villa Flora in ein öffentliches Museum ein. Sie politisierte noch bis 1994 im Grossen Gemeinderat. 1999 ging die Rektorin in Pension. Zurücklehnen kam für sie aber nicht in Frage: Sie präsidierte von 2000 bis 2005 die neugegründete Freiwilligenagentur Winterthur (heute benevol).

Zwischen Winterthur und Glarus

Nach ihrer Pensionierung blieb Sibyll Kindlimann in verschiedenen Bereichen engagiert. Sie blieb bis 2003 Präsidentin der Rektorenkonferenz der Diplommittelschulen. Dort setzte sie sich erfolgreich gegen die geplante Abschaffung der Diplommittelschulen ein, die schliesslich als Fachmittelschulen neu aufgestellt wurden. Danach engagierte sie sich in der Seniorenakademie in Berlingen, wo sie Vortragsreihen zur Geschichte des Nahen Ostens anbot. In Winterthur war sie an der Gründung des 2009 lancierten Museumsvereins Schloss Hegi beteiligt. Kindlimann wohnt abwechselnd in Seen und in ihrem Elternhaus in Schwanden, denn auch ihren Glarner Wurzeln ist die promovierte Historikerin treu geblieben. Zusammen mit ihren beiden Brüdern baut sie das Glarner Wirtschaftsarchiv auf, das mehrere örtliche Firmenarchive versammelt. 


Benutzte und weiterführende Literatur

Tschui, Sivlia: Wie die Pfadi Mädchen zu Chefinnen machte, in: Blick (Online), 16.07.2022.
Speiser, Regina: Im Einsatz für Frauen in Führungsfunktionen, in: Winterthuer Jahrbuch, 2018. S. 14–23.
Graf, Michael: «Ruhestand? Das könnte ich nicht!», in: Landbote, 05.01.2016. 
Schweizer Radio und Fernsehen (SRF): Frauenpower — die Pfadi als Kaderschmiede für erfolgreiche Frauen, in: Kulturplatz, 01.08.2007 .
Honegger, Annegret: Ein Bund fürs Leben, in: Zeitlupe : für Menschen mit Lebenserfahrung (85), 2007, S. 34–35.
Glavac, Monika: Sibyll Kindlimann, in: Föhngeflüster. Glarnerinnen erzählen, Zürich 2006.
o.A.: Stadt Winterthur um eine Attraktion reicher. Einweihung der Judd-Brunnen  in der Steinberggasse, in: Neue Zürcher Zeitung, 11.06.1997.
Uhlmann, Tina: Eine bürgerliche Pionierin mit Profil, in: Winterthurer Arbeiterzeitung, 19.05.1994.
Kindlimann, Sybill: Frau und Politik in Winterthur aus dem  Blickwinkel der ersten Gemeinderatspräsidentin, in: Winterthurer Jahrbuch 1990, S. 49–58.

 

Bibliografie

    Kindlimann, Sibyll, 1932-, Dr.phil. Rektorin Kantonsschule Rychenberg

    • Einträge ab 2011

      Speiser, Regina: Im Einsatz für Frauen in Führungsfunktionen. In: Winterthuer Jahrbuch, 2018. S. 14-23. m. Abb.
      Antonelli, Elisabetta: "Es gibt keine Aufgabe, die Frauen nicht auch bewältigen können." In: Der Landbote , Nr. 29 (2021). S. 5. m.Abb.

      Einträge 1991–2010

      Werdegang: Winterthurer Woche 1992/39 m.Abb.
      Erste Gemeinderätin: Winterthurer Arbeiterzeitung 1994/112 1Abb.
      Landbote 1999/38 Interview, 1Abb.
      StadTalk: Landbote 1999/93


Autor/In:
Nadia Pettannice
Letzte
Bearbeitung:
28.01.2023