Kunst im öffentlichen Raum

Judd-Brunnen

Kunstwerk, Steiberggasse

Die von Donald Judd entworfenen Brunnentröge in der Steinberggasse sind ein Minimal Art-Kunstwerk von Weltrang. Die Bevölkerung von Winterthur zeigt keinerlei Berührungsängste mit diesem bedeutenden Kunstwerk, sondern integriert es auf verschiedene Arten in den Alltag.


Baujahr
1992-1997


Die drei Brunnen von Donald Judd gehören zu seinen bedeutendsten Werken. Er entwarf sie kurz vor seinem Tod im Jahr 1994. Das Kunstwerk realisierten Fachpersonen nach seinen Aufzeichnungen.
Foto: winbib, Marc Dahinden (Signatur FotDig_Lb_001-134)

Autofreie Steinberggasse neu gestalten

1986 beschloss der Stadtrat von Winterthur, die Steinberggasse autofrei zu machen. Damit begann die Diskussion über die Neugestaltung zur Steigerung der Attraktivität der Steinberggasse. Der Stadtrat war der Meinung, dass die Steinberggasse als offene Gasse bestehen bleiben sollte – einzig die nicht mehr benötigten Trottoirs sollten ausgeebnet werden. Andere Vorstellungen hatte der Verein Junge Altstadt, der die Gasse mit grossen Blumentöpfen und anderen Zierobjekten beleben wollte.

Die Stadt rief unter der Leitung von Stadtbaumeister Ulrich Scheibler eine Arbeitsgruppe ins Leben, die aus Anwohnenden, Geschäftsvertretungen und Stadtbeamten aus dem Polizei- und Baudepartement bestand. Diese Gruppe sollte Ideen sammeln. Um ihre Position zu stärken, gründeten Anwohnende, Geschäftsführende und Hausbesitzende den «Verein zur Förderung der Steinberggasse». Während der grosse Wurf auf sich warten liess, kümmerte sich die Stadt um die Umsetzung kurzfristiger Belebungsmassnahmen und veranstaltete 1989 einen Gestaltungswettbewerb für die Steinberggasse, den Neumarkt und die Kasinostrasse. Unter den 15 Bewerbenden ging das Projekt «Einschnitte» des ETH-Architekten Thomas Schneider als Sieger hervor. Er wollte als Reminiszenz an den historischen Stadtbach eine Wasserlinie durch die Steinberggasse ziehen.

Zu teure Kunst für Winterthur

Für die Umsetzung des geplanten Vorhabens kristallisierte sich bald der amerikanische Minimal Art-Künstler Donald Judd als Favorit heraus. 1991 nahmen die Verantwortlichen der Stadt erstmals Kontakt mit dem Künstler auf und beauftragten ihn mit der Planung einer Brunnenanlage. 

Noch im selben Jahr besuchte Donald Judd die Steinberggasse. Der Künstler hatte bereits mehrere Projekte für den öffentlichen Raum geplant, doch keines davon war ausgeführt worden. Entsprechend intensiv beschäftigte er sich mit seinem Werk in Winterthur. 1992 schickte er sein Projektdossier an den zuständigen Stadtrat Heiri Vogt (SP). Die im Entwurf vorgesehene Brunnenanlage wurde mit Kosten von 915’000 Franken veranschlagt. Hinzu kamen geschätzte jährliche Unterhaltskosten von rund 200’000 Franken. Gerade Letzteres war zu teuer für den damaligen Stadtrat, und in der Bevölkerung gab es kritische Stimmen. Der Stadtrat liess das Kreditgesuch daraufhin ersatzlos streichen.

Verein Judd-Project


Die Brunnenanlage genoss weiterhin grosse Sympathie, nicht zuletzt weil die Alternative für die Steinberggasse nach dem Entscheid des Stadtrates nur noch aus einem asphaltierten Boden bestand. Der Vorstand der FDP-Stadtpartei liess 1993 verlauten, dass er sich für die Realisierung des Projekts ohne öffentliche Gelder einsetzen wolle. Aus dieser Initiative gründeten mehrere Winterthurer Persönlichkeiten den Verein Judd Project. Präsidiert wurde der Verein von der FDP-Gemeinderätin Sibyll Kindlimann. Aufgrund dieser Initiative willigte die Stadt ein, mit der Sanierung der Steinberggasse zuzuwarten.

Die Vereinsmitglieder nutzten ihre privaten und beruflichen Netzwerke. Es gelang ihnen, verschiedene handwerkliche und technische Dienstleister davon zu überzeugen, einen Teil der Arbeiten pro bono auszuführen. Damit reduzierten sie die Projektkosten auf 790’000 Franken. Auch verschiedene Gewerbetreibende der Steinberggasse sagten ihre Unterstützung bei der Reinigung und beim Unterhalt der Anlage zu. Um die jährlichen Unterhaltskosten zu senken, arbeiteten sie mit Studierenden des Technikums zusammen, die das Wasserversorgungssystem optimierten.

Um Geld zu sammeln, veranstaltete der Verein mehrere Aktionstage. Mitten während des Fundraisings erlag Donald Judd im Alter von 66 Jahren einem Krebsleiden. Nachdem die Zukunft der Brunnenanlage kurz ungewiss war, konnte sich der Verein mit den Erben einigen und das Projekt weiterverfolgen und auch die nötigen finanziellen Mittel kamen zusammen. 1995 sprach sich die Winterthurer Stimmbevölkerung für die Ausebnung und Asphaltierung der Steinberggasse und den Bau der Judd-Brunnen aus. Kurz darauf begannen die ersten Bauarbeiten. Der grosse unterirdische Teil der Brunnenanlage erforderte tiefe Einschnitte in das Erdreich. In diesem Zusammenhang führte die Kantonsarchäologie Zürich Rettungsgrabungen durch. Dabei legte sie einen Sodbrunnen aus dem frühen 16. Jahrhundert frei.

«Minimal Art» an der Oberfläche

Donald Judd war ein konsequenter Vertreter der Minimal Art. Diese Bewegung entstand in den 1960er-Jahren in den USA als Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus und zur Pop Art. Minimal Art vermeidet jegliche symbolische oder metaphorische Aufladung der Objekte. Für Winterthur bedeutet dies: Die Brunnentröge sollen schlicht als solche verstanden werden. Sie stehen jedoch in Beziehung zur direkten Umgebung, also zu den umliegenden Hausfassaden, dem historischen Stadtbachverlauf und dem Fischmädchenbrunnen. Typisch für diese Kunstrichtung ist auch, dass der Künstler sein Werk zwar entwirft, es aber in der Regel nicht selbst ausführt. Dadurch war es möglich, die Brunnen auch nach dem Tod des Künstlers anhand seiner Aufzeichnungen zu realisieren.

Die von Donald Judd entworfene Anlage besteht aus drei unterschiedlich grossen elliptischen Brunnentrögen. Für die Form orientierte sich Donald Judd am bereits bestehenden Fischmädchenbrunnen, den er aktiv in seine Planung einbezog. Dieser Brunnen markiert den Start der «Wasserlinie». Die drei Brunnentröge sind unterschiedlich hoch und verfügen über verschiedene Abflussmechanismen. Der Wasserspiegel bleibt jedoch überall gleich. Damit macht Judd das Gefälle in der Steinberggasse sichtbar. Als Material wählte der Künstler Naturstein. Die Umsetzung erfolgte mit sandverstrahlten Betontrögen, die von der aargauischen Firma Wey Elementbau AG im Gussverfahren hergestellt wurden. Als der künstlerische Vertreter der Erbengemeinschaft die Tröge besichtigte, war er jedoch nicht zufrieden, da sie Farbstreifen und abgebröckelte Stellen aufwiesen. Daraufhin liess der Verein Judd-Project die Tröge von einem Spezialisten veredeln und ihre Oberfläche mit einem Grafittischutz versehen. Dadurch sollte die Nachhaltigkeit und Beständigkeit des Kunstwerks im öffentlichen Raum sichergestellt werden.

«Maximale Technik» im Untergrund

Donald Judd verlangte in seinen Aufzeichnungen, dass die Brunnen mit «so wenig Technik wie möglich» betrieben werden. Diesen Anspruch konnten die Projektverantwortlichen nicht einhalten – im Gegenteil. Über der Erde stehen die einfach wirkenden Brunnentröge, während sich im Untergrund ein grosses Maschinenhaus verbirgt, das den geschlossenen Wasserkreislauf regelt und für die nötige Filterung sorgt. Die Abteilung für Maschinenbau am Technikum Winterthur entwickelte die Wasseraufbereitung, die durch das Ingenieurbüro Schudel und Schudel umgesetzt wurde.

In den Sommermonaten fliesst das Frischwasser mithilfe von drei Pumpen über ein Vorlaufbecken durch die gesamte Anlage und gelangt dann ins unterirdisch gelegene Rücklaufbecken. Dort bereitet ein Drucksand- und Aktivkohlefilter das verbrauchte Wasser auf, das anschliessend mittels UV-Bestrahlung desinfiziert wird. Danach pumpt man das gereinigte Wasser wieder in das Vorlaufbecken, und der Kreislauf beginnt von Neuem. Auf diese Weise bleibt der Frischwasserverbrauch gering. Die Mindestanforderung an das Brunnenwasser ist «Badequalität», die durch eine ständige Kontrolle des pH-Wertes sichergestellt wird.

Ein Geschenk mit politischen Folgen

Am 14. Juni 1997 wurden die Judd-Brunnen feierlich eingeweiht. Danach gingen die Brunnen als Schenkung in den Besitz der Stadt über. Diese verpflichtete sich, die jährlichen Unterhaltskosten zu übernehmen und das Kunstwerk zu pflegen. Da dadurch mehrere zehntausend Franken an wiederkehrenden Kosten anfielen, warfen einige Parlamentarier:innen dem Stadtrat vor, seine Kompetenzen überschritten zu haben, da wiederkehrende Ausgaben von über 20'000 Franken damals vom Grossen Gemeinderat bewilligt werden mussten.

Die Rechnungsprüfungskommission genehmigte die Angelegenheit jedoch mit dem Hinweis, dass die Stadt vor der Annahme von weiteren Geschenken künftig genauer auf die anfallenden internen Kosten achten solle.     

Stadtbevölkerung eignet sich die Brunnen an

Die Brunnentröge, die ursprünglich als einfache Tröge gedacht waren, erlebten im Laufe der Zeit viele Zweckentfremdungen. Dies liegt auch daran, dass kein anderes öffentliches Kunstwerk in Winterthur so stark von der Bevölkerung in den Alltag integriert wurde wie die zentral gelegenen und besonders exponierten Judd-Brunnen.

In den Sommermonaten etablierten sich die Tröge schnell als inoffizielle «sechste Badi» von Winterthur. Auch die Markttreibenden entdeckten die Betontröge als willkommene Ablage zur Präsentation ihrer Blumen und Kürbisse, die sich im Wasser spiegeln. Während der Musikfestwochen dienten die Tröge als Bühne, Mischpultsockel oder zur Kühlung von Bier und anderen Getränken. Auch der Graffitischutz wurde und wird regelmässig auf die Probe gestellt.

Der «Lochskandal»

Im Jahr 2005 stellte die Vereinigung zur Förderung der Steinberggasse den Antrag, während der Weihnachtszeit Krippenfiguren auf den Brunnen platzieren zu dürfen. Die städtische Kunstkommission war zunächst wenig begeistert von diesem Vorhaben, da Weihnachtssymbolik und Minimal Art nicht wirklich zusammenpassen. Es dauerte rund zwei Jahre, bis die Bewilligung schliesslich vorlag. Die hölzernen Krippenfiguren kamen und etablierten sich bald ebenso wie die Brunnen selbst.

Probleme bereitete der Stadt jedoch die hölzerne Brunnenabdeckung während der Wintermonate. Diese sollte die jeweils trockengelegten Brunnen vor Abfall, Konfetti sowie Personen mit voller Blase oder rebellierendem Magen schützen. Da die Bretter mittlerweile morsch und undicht waren, liess Stadtwerk Winterthur 2014 passende Leichtmetalldeckel anfertigen. Diese liessen sich jedoch nicht an den Brunnen befestigen und eigneten sich auch nicht als Unterlage für die hölzernen Krippenfiguren, die daher nicht mehr aufgestellt werden konnten – sehr zum Ärger der Gewerbetreibenden. Diese sammelten daraufhin Geld für eine spezielle hölzerne Verankerung für ihre Krippenfiguren.

Die Stadt befürchtete, dass die teuren Deckel beim Auf- und Abmontieren der Figuren Schaden nehmen könnten. Daher entschied Stadtwerk, diese mit dem Brunnen zu verankern. Städtische Angestellte bohrten je 10 Verankerungslöcher in jeden Trog des Kunstwerks von Weltrang. Diese städtische Intervention blieb nicht lange unbemerkt und sorgte für einen veritablen Kunstskandal in Winterthur, der bis nach New York Wellen schlug. Auf der anderen Seite des Atlantiks wunderte man sich über den etwas lockeren Umgang mit dem Kunstwerk von Weltrang. Doch die Winterthurer:innen liessen sich ihren Badeplausch und auch ihre Krippenfiguren nicht mehr nehmen. Die Löcher mussten aufwendig vom Winterthurer Bildhauer Gregor Frehner wieder geschlossen werden; die Flickstellen sind zum Teil immer noch gut zu sehen.

Die Aufregung legte sich schnell, und die Brunnen sind nach wie vor kaum aus Winterthur wegzudenken.


Benutzte und weiterführende Literatur:

o.A.: Die Löcher sind wieder weg, in: Der Landbote, 05.07.2017.
Von Wartburg, Deborah: Wer will auf der Brunnenbühne spielen?, in: zueriost.ch, 28.02.2017.
o.A.: New York rüffelt Winterthur, in: Tages-Anzeiger, 23.11.2016.
Gmür, Martin: Neue Deckel vertrieben die Krippenfiguren, In: Der Landbote, 17.12.2015.
Speiser, Regina: Seilziehen um die Zukunft einer Altstadtgasse, in: Winterthurer-Hintergass-Geschichten. Ein historischer Spaziergang durch die Steinberggasse, Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur, Bd. 347., 2013, S. 13–40.
Leuenegger, Marc: Die «sechste Badi» liegt temporär trocken, in: Der Landbote, 18.06.2013.
Kirchheim, Eva: Ein Krippenspiel auf den Judd-Brunnen, in: Der Landbote, 13.12.2007.
Gmür, Martin: Holzfiguren auf Judds Betonbrunnen, in: Tages-Anzeiger, 11.12.2007.
Stadtwerk Winterthur: Die Judd-Brunnen. Technische Beschreibung, 2001 in: in: Doku Landbote 6/1.
Tommer, Benjamin: Augen zu bei Judd-Brunnen, in: Tages-Anzeiger, 28.09.1999.
Tommer, Benjamin: Ein schönes Geschenk, in: Tages-Anzeiger, 18.09.1998.
Mebold, Adrian. Judd-Brunnen gurgeln und sprudeln in der Steinberggasse, in: Winterthurer Jahrbuch, 1998, S. 76–79.
Keller, Roger: Minimale Kunst, maximaler Effekt. Winterthur weiht am Samstag die neu gestaltete Steinberggasse mit den Judd-Brunnen ein, in: Tages-Anzeiger, 11.06.1997.
Mösli, Andreas: Die Judd-Brunnen. Bald plätschern sie in der Winterthurer Altstadt, in: Tages-Anzeiger, 22.05.1997.
Perll, Götz: Neue Kunst am Brunnen: In Winterthur wird möglich, was in Zürich und St.Gallen Bauchweh macht: moderne Kunst im öffentlichen Raum, in Schweizer Woche, 17.10.1994.
Steiner, Urs: Eine Stadt kämpft für 3 Brunnen. Ein Kulturmärchen: Der Künstler Donald Judd bewegt die Winterthurer über seinen Tod hinaus, in: Cash, 23.09.1994.
Kurjakovic, Daniel: Einzug der Spätmoderne. Judd-Brunnen für Winterthur, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.09.1994.

Bibliografie

    Judd Brunnen, Steinberggasse, Neugestaltung

    • Einträge ab 2011

      Beschreibung der Judd-Brunnen durch die Städtische Werke Winterthur, 2001, in: Doku Landbote 6/1.

      Einträge 1991–2010

      Geplant, abgelehnt, private Initiative: Landbote 1993/75 1Plan, 102 1Abb., 126, 230 1Abb., 244, 1994/15, 38, 93, 162, 210 1Abb., 212 m.Abb., 1995/28 1Abb.,49 1Abb., 248 1Abb. - Winterthurer Arbeiterzeitung 1993/75 1Abb., 102, 143, 1994/15, 265 1Abb., 1995/49 1Abb. - NZZ 1994/212 S.19, 1995/49 S.53. - Weinländer Zeitung 1994/107, 1995/15 1Abb., 124 1Abb.
      Brunnen in Produktion: Steibi Zytig 1996/2 m.Abb. - Landbote 1996/143 Roharbeiten, 1997/42 m.Abb.
      Farbe: Landbote 1997/63.
      Landbote 1997/96.
      Aufstellung: Landbote 1997/114 m.Abb.
      Einweihung: Landbote 1997/131 m.Abb., 135 m.Abb. - NZZ 1997/132 S.53 1Abb. - Zürcher Oberländer 1997/132 1Abb. - Tages-Anzeiger 1997/132 1Abb. - Weinländer Zeitung 1997/66, 68. - Steibi-Zytig 1997/3 + Geschichte Steinberggasse, m.Abb. - Weinländer Zeitung 1997/82 m.Abb. - Andelfinger Zeitung 1997/83 von Ulrich Scheibler, Gedicht von Willy Peter, m.Abb.
      In: Kunst+Stein 1997/4 Winterthur: Gezeichnetes und reales Bildhauen, von Véronique Fehlmann, m.Abb.
      Winterthurer Jahrbuch 1998 S. 76 ff. von Adrian Mebold, m.Abb.
      Unterhalt: Landbote 1998/72.
      In: Tobias Werner. Peter Märkli, Einfache Architektur ? Winterthur 1998.
      Unterhalt: Tages-Anzeiger 1998/216 1Abb., 1999/48 [Winterthurer Dok. 1999/48]. - Landbote 1998/268.
      Gedenktafel: Tages-Anzeiger 1999/99.
      In: Landbote 2003/184.
      Baden in den Brunnen. Konflikt: Landbote 2006/255 1Abb.


Autor/In:
Nadia Pettannice
Letzte
Bearbeitung:
18.09.2024