KMU und Gewerbe

Haus zum Steinbock

Marktgasse 27

An der Marktgasse 27 befand sich im Mittelalter das Obere Spital. Es diente wohlhabenden Bürger:innen bis 1528 als Pfrundhaus. Nachdem das Obere Spital in das ehemalige Klostergebäude an der Marktgasse 53 umgezogen war, ging das Haus an der Marktgasse in den Besitz von Privatpersonen über und wurde 1694 zum Wirtshaus zum Steinbock. Bis in die 1950er Jahre war der Steinbock nicht nur Weinstube, sondern auch Bäckerei. 1958 musste er zusammen mit dem Nachbarhaus, dem Haus zur Redlichkeit, einem Neubau für die Allgemeine Baugenossenschaft Winterthur (ABW) weichen.


Adresse
Haus zum Steinbock
Marktgasse 27

Links im Bild: Restaurant und Bäckerei zum Steinbock, Marktgasse 27, 1911.
Foto: winbib (Signatur PK_0134)

Das Obere Spital an der Marktgasse 27

Im Mittelalter wurden alte und kranke Menschen zu Hause medizinisch versorgt und von ihren Angehörigen gepflegt. Wer mittellos war und kein familiäres Umfeld hatte, das die Pflege übernehmen konnte, fand im Unteren Spital am Neumarkt Unterschlupf. Dort wurden neben armen Kranken auch alleinstehende Frauen und Mütter nach ihrer Niederkunft sowie Waisenkinder und Handwerker, Bettler oder Pilger, die auf der Durchreise waren, aufgenommen. Alle mussten, wenn es ihre Kräfte zuliessen, auf dem Spitalareal oder den Gütern des Spitals für ihr tägliches «Mus» arbeiten. Im Gegensatz zu den armen Kranken residierten die wohlhabenden Kranken, die sogenannten Herrenpfründer, im Oberen Spital an der Marktgasse 27. Sie konnten sich mit einer grösseren Summe Geld, einer sogenannten Pfrund, ins Spital einkaufen, wo für sie dann bis zu ihrem Tod gesorgt wurde. Im Zuge der Reformation wurde 1523 das Frauenkloster "Sammlung", in dem bis dahin der Schwesternkonvent der Predigerfrauen lebte, aufgelöst und das Haus zur Sammlung gemäss einer viel früher festgelegten Stiftungsbedingung dem Spital übertragen. Dieses verlegte das Obere Spital daraufhin ins ehemalige Klostergebäude an die Marktgasse 53 und verkaufte 1528 das Haus an der Marktgasse 27. Zum Zeitpunkt der Verlegung war das Obere Spital eine gut organisierte und wohlhabende Institution mit Grundbesitz, Liegenschaften und Mühlen. 

Vom oberen Spital zum Wirtshaus und zur Bäckerei «zum Steinbock»

Nachdem das Haus an der Marktgasse 27 im Jahr 1528 als Spital nicht mehr genutzt wurde, gelangte es 1694 von den Erben von Hans Ulrich Sulzer an den Bäcker Hans Georg Graf. Dieser nannte das Haus "zum Steinbock" und brachte an der Seite zur Marktgasse einen gusseisernen Steinbock an. Dieser schmückte das Haus bis zu seinem Abriss im Jahr 1958. Einer seiner Nachkommen, der ehemalige Waagmeister Heinrich Graf, verkaufte das Haus 1770 an seinen Sohn, den Bäcker Ulrich Graf. Nach dessen Tod ging der Steinbock an seinen Sohn über, der ihn an seine Tochter Elisabetha Nötzli, geborene Graf, vererbte. Diese vermachte das Haus ihren beiden Kindern, Rudolf Nötzli und Lisette Friedrich Nötzli, die den Steinbock 1835 an den Sohn von Rudolf Nötzli verkauften. Rudolf Heinrich Nötzli, Bäcker von Beruf, verkaufte den Steinbock 1865 an den Gastwirt Rudolf Hasler. Dieser verkaufte das Haus bereits kurze Zeit später, 1869, weiter an Rudolf Kägi, der das Haus dann nur zwei Jahre später, 1871, an den Bäcker David Schellenberg weiterverkaufte. Dieser übertrug das Haus 1893 an seinen Sohn, den Bäcker und Wirt David Schellenberg. Der Steinbock blieb bis Anfang der 1940er Jahre im Besitz der Familie Schellenberg, die neben der Weinstube an der Marktgasse auch die Bäckerei im Hinterhaus betrieb. Dort wurden auch die berühmten Steinböckli, ein gugelhupfartiges Gebäck aus Eiern, Mehl, Zucker und Butter, erfunden. Anfang der 1950er Jahre kaufte die Firma Göhner Ernst AG aus Zürich, der bereits das Nachbarhaus zur Redlichkeit gehörte, den Steinbock. 1958 riss sie die beiden Häuser ab und erstellte einen Neubau an deren Platz.

Treffpunkt und Gründungslokal für Politiker, Vereine und Gesellschaften

Im Wirtshaus zum Steinbock wurde der eine oder andere Verein gegründet. Am 24. November 1845 fand die Gründungsversammlung des Krankenunterstützungsvereins der Firma Sulzer im Steinbock statt. Der Verein, gegründet von etwa 30 Männern, war eine der ersten sozialen Institutionen der Schweiz. Am 24. Mai 1868 um 15.45 Uhr gründete eine "stattliche Anzahl Männer" den Konsumverein Winterthur und am 5. April 1916 kamen im Steinbock dreissig Kunstschaffende zusammen um die Künstlergruppe Winterthur zu gründen. Auch bekannt ist, dass sich die die Gesellschaft Schweizerischer Amateur-Photographen Winterthur (später Photografische Gesellschaft Winterthur (PGW) in den 1920er Jahren jeweils für ihre Monatsversammlung im Steinbock traf. Durch ein geheimes Türchen, das im Täfer verborgen war, war der Steinbock mit dem Nachbarhaus, dem Waaghaus verbunden. Dort traf sich der Vorstand des Musikkollegiums und konnte sich durch den direkten Zugang vom Wirt des Steinbocks bewirten lassen. 

ABM statt Steinbock

Anfang der 1950er Jahre übernahm die Ernst Göhner AG aus Zürich den Steinbock. Diese hatte  bereits das Nebengebäude, das Haus zur Redlichkeit, gekauft. Die Ernst Göhner AG liess die beiden Häuser abreissen, um an ihrer Stelle einen Neubau für das Warenhaus Au Bon Marché (ABM) zu bauen. Am Dienstag, 25. Februar 1958, begannen die Abbrucharbeiten. Zuerst wurde das Haus der Rabattvereinigung am Kirchplatz mit einer riesigen Eisenkugel, die an einem Drahtseil eines Krans befestigt war, abgerissen. Dann wurden die ehemalige Bäckerei, das Wirtshaus und das Haus zur Redlichkeit dem Erdboden gleichgemacht. Danach folgten die ehemalige Bäckerei, das Wirtshaus und das Haus zur Redlichkeit. An ihrer Stelle entstand das neugebaute Warenhaus.


Benutzte und weiterführende Literatur

Abschied vom «Steinbock». In: Der Landbote, 28.2.1958
Der Abbruchhammer in der Altstadt. In: Arbeiterzeitung, 12.6.1958
Die Tage des Steinbocks sind gezählt. In: Neues Winterthurer Tagblatt, 17.5.1958.
Kobelt, Nina: Steinböckli: Wie der König der Berge nach Winterthur kam. In: Der Landbote, 17.4.2020.
Häuserverzeichnis A-Z, Sammlung Winterthur

Bibliografie

    ABM, Au Bon Marché, Marktgasse 27

    • Einträge 1991–2010

      Schliessung; neu Landbote 2003/32. - Landbote Jahresenbeilage 2003

    Kunsthalle Waaghaus, Marktgasse 25

    • Einträge ab 2011

      Diethelm, Sabina: Kunst als Kollaboration. In: Coucou, Nr. 126 (2024). S. 30-33. m. Abb.

      Einträge 1991–2010

      Zürcher Chronik 1992/2 1Abb.
      Erstes Kunstmuseum: Landbote 2000/191 von Urs Widmer.
      Kunsthalle und Kupferdruckatelier: Landbote 2000/127.
      Ausstellung Renate Bodmer, Bendicht Fivian, Werner Wal Frei: Landbote 2002/263 1Abb.
      Neuer Leiter Oliver Kielmayer: Landbote 2005/219, 2006/56 Interview, m.Abb..
      Atelier: Landbote 2006/41 1Abb. - Winterthurer Zeitung 2006/8 1Abb.
      Wettbewerb, Protest: Landbote 2006/248.
      Winterthur sucht den Superstar: Landbote 2006/293 von Christina Peege, 1Abb. - Winterthurer Zeitung 2007/50Sieger Nicola Grabiele 1965-, 1Abb. - Landbote 2007/297 Ausstellung, von Christian Peege, 1Abb.
      Anna Karai proudly presents William Earl Kofmehl III: Landbote 2009/46 von Mario Lüscher, 1Abb. - Programm, 1Bl. :Winterthurer Dok.2009/12 m.Abb.
      The Telephone Book, Ausst. 23. 5. bis 11. 7. 2010: Winterthurer Dok. 2010/1 von Oliver Kielmayer, m.Abb.
      30 Jahre: Landbote 2010/42 Interview Beat Reinhart, m.Abb., 68 Interview Oliver Kielmayer, 1Abb.
      LarsLaumann, von Julia Wolf, Programm: Winterthurer Dok.2010/12 m.Abb.


Autor/In:
Karin Briner
Letzte
Bearbeitung:
11.10.2024