Zeitgeschichte
Hochschullager Winterthur
In Winterthur befand sich im Zweiten Weltkrieg ein Hochschullager für internierte polnische Soldaten. Es existierte von 1940 bis 1946, hier wurden während des Krieges über 500 polnische Soldaten unterrichtet. Die Soldaten waren privat untergebracht. Der Unterricht fand zunächst in Winterthur statt, später durften die Studenten Vorlesungen an der ETH und der Universität in Zürich besuchen. Ähnliche Hochschullager existierten in Herisau und Freiburg.
Auflösung
1946
Gründungsdatum
1940
Etwa 12'500 polnische Soldaten wurden zwischen 1940 und 1945 in der Schweiz interniert. Sie standen unter militärischer Aufsicht. Für die Internierten wie auch für die Zivilbevölkerung gab es strenge Verhaltensregeln. Kontakte waren grundsätzlich nicht erwünscht. Dennoch kam es immer wieder zu Liebesbeziehungen.
Foto: winbib, Leszek Bialy (Signatur: ALBU_1-017_019)
Im Sommer 1940 wurden 12'500 polnische Soldaten in der Schweiz interniert. Darunter waren viele , die ihre Ausbildung unterbrochen hatten. Um ihnen die Fortsetzung ihres Studiums zu ermöglichen, wurden in der Schweiz eine Reihe von Hochschullagern eingerichtet. Für die Zuteilung zu den verschiedenen Hochschullager war die Fachrichtung ausschlaggebend: In Winterthur waren primär die Polytechniker, Mediziner und Veterinäre stationiert.
Die polnischen Soldaten im Hochschullager Winterthur unterstanden militärisch dem polnischen General Bronisław Prugar-Ketling, dem Kommandanten der polnischen Zweiten Schützendivision, die auch eine Disziplinarordnung erliess. Vor Ort war der polnische Oberstleutnant Reder verantwortlich. Für den Hochschulbetrieb setzte das 1940 gegründete Eidgenössischen Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung (EKIH) den pensionierten ETH-Rektor Charles Andreae ein.
Die Internierten wohnten bei Privaten
Das Hochschullager Winterthur nahm seinen Betrieb im Oktober 1940 auf. Die polnischen Soldaten wurden bei privaten Gastgebern untergebracht, mussten aber ihre Mahlzeiten gemeinsam im Saal des Kirchgemeindehauses Winterthur an der Liebestrasse einnehmen. Der Unterricht fand zunächst in verschiedenen Lokalitäten in der Stadt Winterthur statt unter anderem im Chemiegebäude des Technikum, in der Kantonsschule, im Rathaus sowie im Gewerbemuseum Winterthur. Bereits ab Herbst 1941 fand ein Teil des Unterrichtes an der Universität Zürich und an der ETH Zürich statt, ab dem Wintersemester 42/43 galt das für alle. Den Soldaten wurde erlaubt, jeden Tag mit dem Zug dorthin zu fahren.
Die Studenten aus Winterthur belegten Kurse in Architektur, Bauingenieurwesen, Maschineningenieurwesen, Elektrotechnik, Chemie, Land- und Forstwirtschaft, Pädagogik, Jura, Human- und Veterinärmedizin und weiteren Fächern. Die Soldaten erhielten zunächst nur Hörerstatus. Am Ende des Krieges wurde ihnen jedoch Diplome ausgestellt. Rund 160 Studierende wurden diplomiert, einige noch in den Jahren 1946 und 1947. Ein Teil dieser Diplome wurde nie abgeholt und befindet sich immer noch im Archiv der ETH Zürich.
Arbeitseinsätze während der Semesterferien
Während der Semesterferien wurden die Angehörigen des Hochschullagers zu verschiedenen Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft und im Strassenbau herangezogen. Im Kanton Zürich in Seuzach, Bassersdorf und Rickenbach, im Kanton Graubünden in Chur, Vals, Cazis und im Safiental. Auf dem Weg zur Grossalp im zuhinterst im Safiental zeugt heute noch eine Gedenktafel zeugt von diesem Einsatz, die Studenten aus Winterthur sind dort ausdrücklich erwähnt. Ausserdem wurden Hilfsaktionen für die Heimat aber auch für polnische Kriegsgefangene organisiert. Nach Kriegsende konnten die Soldaten zurück nach Polen, die meisten reisten jedoch in ein Drittland aus. Viele davon nach Frankreich, aber auch in die USA und andere Länder.
Für die Freizeit standen zwei Räume in der Altstadt zur Verfügung, die von Clary und Kurt Schoellhorn-Dreyer zur Verfügung gestellt wurde; Kurt Schöllhorn war damals Direktor der Bierbrauerei Haldengut. Sie befanden sich im Haus zum Grabeneck an der Kreuzung Marktgasse und Oberer Graben. Die Räume wurden von polnischen Internierten mit Wandmalereien geschmückt.
Liebesbeziehungen waren verboten aber trotzdem üblich
Einige der Studenten widmeten sich auch künstlerischen Tätigkeiten. Zwischen 1943 und 1945 fanden im Gewerbemuseum Winterthur eine Reihe von Ausstellungen mit künstlerischen Arbeiten von internierten Soldaten statt. Besonderen Stellenwert genoss die Musik: Ein eigens gegründeter Männerchor gab über 170 Konzerte in verschiedenen Teilen der Schweiz. Offiziell waren den Internierten persönliche Kontakte zur Bevölkerung verboten. Dieses Verbot wurde aber nicht durchgesetzt: Zahlreiche Internierte hatten Liebesbeziehungen, einige heirateten sogar nach dem Krieg. Einige Soldaten und Offiziere flohen aus dem Hochschullager und gelangten via Frankreich oder Italien nach England, wo sie sich dem Widerstand gegen Hitler-Deutschland anschlossen. Einige dieser Absetzungsbewegungen sind gut dokumentiert. So etwa jene des Dozenten Jan Sawka oder Bernhard Giberstein, der auch eine Tochter zeugte.
Die 1933 neu gebaute Herz-Jesu Kirche im Mattenbach-Quartier wurde den mehrheitlich katholisch geprägten polnischen Soldaten zur spirituellen Heimat. In einem Seiteneingang der Kirche erinnert eine Tafel an diese Zeit.
Zeugnisse in Wort und Bild
Manche der internierten Soldaten haben sich später zu ihrer Zeit im Winterthurer Hochschullager geäussert. So beispielsweise Wiktor Stefaniak in seinem Buch ‹Freiheit ist eine grosse Sache›. Der letzte der polnischen Internierten starb im Jahr 2020 im Alter von 100 Jahren. Es war Edward Krolak. Er erinnerte sich an seine Zeit in Winterthur wie folgt:
«In Winterthur gab es eher weniger zu essen, deshalb ging ich ab und zu zum örtlichen Frauenverein. Da bekam ich für fünfzig Rappen eine feine Rösti. Anfangs hatte ich ein Zimmer in der Winterthurer Altstadt. Die Dame des Hauses war eine Berner Köchin, die es wirklich sehr gut mit uns meinte. Manchmal, wenn ich nach dem Mittagessen ins Zimmer kam, stand auf meinem Tisch ein Teller Suppe. Und zum Geburtstag bekam ich einen Cervelatsalat mit Brot. Das war einfach himmlisch. Überhaupt waren uns die meisten Schweizer wohlgesinnt.» (Edward Krolak. 2019)
Einige polnische Soldaten blieben bis Sommer 1946 in der Schweiz um ihre Studien abzuschliessen. Ende Juni 1946 übergaben sie der Stadt Winterthur eine Gedenktafel für das Hochschullager Winterthur. Die Tafel wurde vom polnischen Künstler Pietrowksi Maciej gestaltet und Ende Juni 1946. Auf der dunklen Bronzetafel beim Gewerbemuseum heisst es: «Der gastfreundlichen Stadt Winterthur. Die internierten polnischen Studenten.»
Die Sammlung Winterthur bewahrt ein grossformatiges Fotoalbum mit rund 50 professionell angefertigten schwarzweissen Fotos auf, welche das Leben im Hochschullager Winterthur dokumentieren. Sie stammen alle vom polnischen Soldaten Leszek Bialy, der in Winterthur Berti Baumeler heiratete und danach nach Polen ausreiste. Er hatte das Album für die Gönnerin der internierten Soldaten, Clary Schoellhorn-Dreyer angefertigt. Von der Anwesenheit der polnischen Internierten zeugt auch heute noch das Polendenkmal auf dem Friedhof Rosenberg.
Benutzte und weiterführende Literatur
Landwehr, Dominik: Internierte im Tösstal und Winterthur. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg Rückblick auf eine bewegte Zeit 1940 – 1946. Schriften des Ortsmuseum Wila. Herausgegeben von Wolfgang Wahl, Wila 2020. Online unter https://www.sternenjaeger.ch/internierte
Bill, Marie-Isabelle: Interniert. Polnisch-schweizerische Familiengeschichten, Zürich 2020.
Schadegg-Rück, Madeleine: Spuren: Von einer Vatersuche und Millionen nachtloser Strümpfe. Eine Lebensgeschichte, Wetzikon 2014.
Mullis, Ruben : Die Internierung polnischer Soldaten in der Schweiz 1940–1945. Militärgeschichte zum Anfassen. Herausgegeben von Hans Rudolf Fuhrer, Zürich 2003.
Broda, May: Das polnische Internierten-Hochschullager Herisau/St. Gallen. In: Appenzellische Jahrbücher 119, 1991. S. 25–54. Online unter e-periodica der ETH-Zürich.
Stefaniak, Wiktor : Freiheit ist eine grosse Sache; Erinnerungen internierter Polen. Zürich, 1985.
Leuthold, J.: Das polnische Internierten Hochschullager. 1940–1946. Winterthur 1946.
Eidgenössisches Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung (Hrsg.): Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten der in der Schweiz internierten Polen. 2 Bände. Bern 1944 und 1945. Online
Andreae, Charles : Die Hochschullager polnischer Internierten. In: Schweizerische Hochschulzeitung. Heft 3. 18. Jahrgang. Zürich 1944, S. 149–1954.
- Autor/In:
- Dominik Landwehr
- Letzte
- Bearbeitung:
- 05.06.2023